Wenn Lobster plötzlich einen Namen kriegen

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Regentag. Der erste. Für uns Waschtag, Aufräumtag. Leo ist wie aufgekratzt. Er freut sich total auf Lesen und Hören. „Darf ich heute hören?“ ist seine Frage noch vor dem Nutella-Spiegelei-Frühstück. Nach dem „na klar“ Einverständnis zeigt sein Gesicht ein breites, freudiges Lachen. Gammeltag haben wir das früher genannt. Und so ist das wohl auch für den großen kleinen Jungen. Hoody über den Kopf gezogen, kurze Jeans an, und dann aufs Hochbett über der Fahrerkabine, das Profis Alkhoven nennen. Beats auf die Ohren gesetzt und los geht es mit Hörbüchern wie Momo. Später am Abend erzählt er dann die Geschichte aus Michael Endes großem Kinder-Erwachsenen-Buch detailliert nach.

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Ein guter Tag. Für alle. Die Güsse von oben nehmen wir mit Gelassenheit. Und die zwischenzeitliche regenfreie Zone wird schnell zur kurzen Exkursion ans Meer genutzt. Doch der Blick über die Bucht ist natürlich nebelig und grau. Kein Vergleich zum Abend zuvor, als ein weißer Katamaran über das tiefblaue Wasser kreuzte und die sich senkende Sonne den wolkenfreien Himmel hellblau leuchten ließ. Welch´ ein Unterschied, wie sich Ansichten und Perspektiven durch Licht verändern. Wie Stimmungen und Blickwinkel durch äußere Einflüsse beeinflusst werden.

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24 Stunden Rückblick. Die Ankunft in Camden. Diese wundervolle von vielen unterschätzte kleine Hafenstadt mit den Windjammern am Steg zeigt sich so, wie sie schöner nicht sein kann. Ein abendliches Sonnenlicht, das der 14.000 Einwohner zählenden Gemeinde an der felsigen Küste von Maine mit dem schneeweißen Kirchturm in der Ortsmitte einen goldgelben Farbüberzug spendiert. Die Menschen, die hier leben und jeden, aber auch jeden mit einem „hi“, „hello“ oder einer zum Gruß erhobenen Hand begegnen. Nirgends ist die Freundlichkeit der Amerikaner herzlicher als hier im Norden der Neuengland-Staaten; hier wo vor Jahrhunderten deutsche Aussiedler anlandeten und den Städten Namen ihrer Herkunft gaben wie Bremen oder Brunswick (Braunschweig).

Seit dem ersten Besuch in diesem Landstrich – 1994 – zählt Maine mit seinen nur 1,3 Millionen Einwohnern zu den Lieblingsstaaten des Aufschreibers. Die vielfältige Natur, die weite Landschaft, die zugewandten Menschen – vieles lässt sich nicht beschreiben, sondern einfach nur genießen. Bisher war dieses Gefühl stets mit Reisen in den Indian Summer, in den Monaten September und Oktober, mit den unbeschreiblich fantastischen Farbenspielen der herbstlichen Ahornwälder verbunden. Jetzt, in der Wärme des nordamerikanischen Sommers, lässt es sich hier auch ganz gut reisen.

Old Orchard Beach. Dieser elf Kilometer lange, weiße Sandstrand an der Atlantikküste ist nicht wiederzuerkennen. Vor gut 400 Jahren entdeckte einst der britische Eroberer Martin Pring diesen einmaligen Landstrich und lotse seine Landsleute über den großen Ozean hierher. Noch heute fühlt sich der Besucher im Oktober wie ein Entdecker und Eroberer der Einsamkeit – allein mit den tosenden Wellen, den anlandenden Krebsen und den großartigen Muschelschalen. Doch jetzt im Juli, high season, ist vieles anders, bewegter. Jeder Quadratmeter rund um den Pier ist belegt mit Klappstühlen, Sonnenschirmen und tausenden erholungssuchenden Touristen. Alles Amerikaner. Deutsche sind uns bis zum heutigen Tag noch keine begegnet. Nicht in einer Woche, ungewöhnlich. Ob es an Trump liegt?

 

Leo ist zunächst zurückhaltend. Er ist das Mittelmeer gewöhnt, sanfte Wellen, warmes Wasser. Der junge Mann beobachtet, bevor er sich an die Wasserkante traut. Die Wellen des Atlantiks überschlagen sich an diesem Tag in sanften Höhen von etwa 70 bis 100 Zentimetern. Ein Siebenjähriger von nicht einmal 1,30 Meter Höhe empfindet davor schon einen gehörigen Respekt. Aber Leo ist ja mutig. Und sportlich. Nach ersten vorsichtigen Berührungen des kühlen Atlantikwassers ist er nicht mehr zu stoppen. Mit Schwung stürzt er sich in die sich überschlagenen Wellen, die seinen kleinen Körper vollends mit schäumender Gischt bedecken. Immer wieder und immer wieder. Erst die Verlockung, jetzt noch einmal ein intensives Torwarttraining mit Ballfangen und Hechtparaden einzulegen, überzeugt ihn schließlich, dem Atlantik adé zu sagen.

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Gelbe Torwarthandschuhe und das Trikot von Fortuna-Keeper Michael Rensing sind natürlich im Reisegepäck. Der Ball wandert erstaunlicherweise gerade vom Fuß in die kleinen Hände. Ausdauerndes Üben unter dem Basketballkorb mit unglaublichen Tricks vor und hinter dem Körper und enorm vielen Körben im Rückwärtsüberkopfwurf, permanentem Ballauftippen – „ich habe über 300 geschafft“ – drängen das geliebte Kicken in den Hintergrund. Erinnerungen an unsere erste US-Reise werden wach, als der damals Fünfjährige in San Francisco morgens beim Frühstück eines dreistöckigen Pancakes zum besten gab: „Papa, ich fühle mich so amerikanisch!“ Nun hinterlässt der Sport hierzulande offenbar auch schon seine Spuren.

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Maine ist Lobster Land. Wo anders als hier, wo 1994 die roten von Gourmets in Europa vergötterten und teuer bezahlten Scherentiere aus den Tiefen der Ozeane noch 9,90 Dollar kosteten und wir ihnen den Beinamen amerikanische Bratwurst gaben, wo anders soll man sie essen. 100.000 Hummer wurden im vergangenen Jahr vor der Küste Maines gefangen. Nirgends schmecken sie besser als direkt vor Ort. Frisch gefangen, frisch zubereitet. Das Fleisch ist hauchzart und in zerlassene Butter getunkt einfach, natürlich, köstlich. Aus 9,90 sind inzwischen 24 Dollar geworden. Dieses nur als Randbemerkung.

Auch hier tastet sich der Jüngste der Reisegemeinschaft langsam heran, bevor er das wahre Geschmackserlebnis erfährt. Am ersten Abend wird schon mal vom Klassiker, der Lobster Roll, gekostet. Am zweiten Abend dann – best place of town – im Restaurant Rhumb Line direkt am Hafenbecken, wählt Leo den geliebten Ceasars Salat mit Lobster. „Ein Genuss“, sagt er. Unsere kompletten roten Viecher auf dem Teller findet er sehr interessant, aber das Knacken der Panzer sehr mühsam.

 

Leo hat Freundschaft geschlossen. Zunächst mit dem Chef dieses herrlichen Ortes. Dann mit den Lebewesen, die da draußen im Meer in die unzähligen Fallen geraten und nun auf der Terrasse des Speisenanrichters bei zufließendem Frischwasser in einer weißen Badewanne mit zusammengebundenen Scheren übereinanderherkrabbeln. Leo ist verzückt und lässt die Tiere nicht aus den Augen, nicht vor und schon gar nicht nach dem Mahl. Er darf sie berühren, über den Panzer streicheln so wie er in San Francisco den Rochen über den Rücken gestreichelt hat. Und dann hat er erst einen, dann zwei in der Hand. Er greift in das Becken mit diesen etwa 30 quicklebendigen Raubtieren der Meere und holt sie raus. Einer dieser Lobster muss ihm besonders gefallen und bekommt den Namen „Johnny“. Dass sie später dann irgendwann im Kochtopf landen, ist ihm bewusst. Schnell hat Leo zwei amerikanische Jungen an seiner Seite, die es ihm gleich tun.

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Später, Zuhause, kommt Traurigkeit auf. Ob man „Johnny“ denn nicht mitnehmen könne nach Deutschland, lautet die berechtigte Kinderfrage. Nach einer Exkursion über das Leben und Sterben, die Bedeutung von Nutztieren und Ernährung von Menschen, vom täglichen Kampf der Kreaturen ums Überleben, ist ein weiteres Kapitel Kinderbildung aufgeschlagen. Leo wünscht sich jetzt nur noch, dass in den nächsten Tagen wenige Gäste ins Rhumb Line gehen und sein „Johnny“ noch ein paar Tage in der Badewanne erleben darf.

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2 Kommentare zu „Wenn Lobster plötzlich einen Namen kriegen

  1. Leo geht bald als Halbamerikaner durch (wenn Trump nicht wäre). Jetzt wirft er schon Körbe wie ein NBA-Profi. Zu Dirk Nowitzki fehlt nicht mehr viel, außer einem Meter zusätzlicher Körpergröße.
    Ich erinnere mich sehr lebhaft an den Old Orchard Beach im Indian Summer. Damals waren wirklich kaum Leute da. Es war herrlich bei mildem Sonnenschein. Totale Entspannung nach längerer Autotour.
    Aber etwas mehr Trubel schadet ja nicht. Und Ihr könnte Euch ins Meer stürzen. Hätte ich nur damals Lobster statt Hühnchen gegessen. Nun haben die Preise kräftig angezogen. War wohl zu erwarten. Man sollte demnächst hinfahren, bevor der Hummer 50 Dollar kostet. Die Ostküste und Maine wirken nach wie vor sehr verlockend!!

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  2. Wirklich schönes Foto von Vater und Sohn! Wird fast, allerdings nur fast noch getoppt vom Anblick des wunderbaren Lobster. Köstlich! Ich komme ‚rüber zu euch. Leo, halte bitte eines der sympathischen roten Tierchen übrig für mich. Es muss ja nicht „Johnny“ sein . . .

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