Leos Blick auf Kanada: Wir kommen wieder

Nun sitzen wir in der Boeing 747 der Lufthansa im Oberdeck, haben die Rockys längst überquert, das Abendessen – diesmal sehr lecker – verputzt, Karl trinkt seinen ersten Sauvignon Blanc seit vier Wochen, und Leo schaut vor dem Schlafenlegen einen Film: „Die Pinguine von Madagaskar“. Zuvor haben wir uns noch einmal über unsere dritte gemeinsame Vater-Sohn-Reise unterhalten und Leo hat seinen eigenen Blick auf diese Zeit formuliert. Hier ist sein zweiter Blogbeitrag, aufgeschrieben von Karl. Der Text ist anschließend von Leo autorisiert worden. (Dieser Text ist über dem Atlantik gesendet worden, Fotos werden in Düsseldorf eingefügt)

Die letzten Tage war ich manchmal traurig. Immer morgens, wenn wir zu einem neuen Ort gefahren sind und Papa gesagt hat, jetzt noch fünf, vier oder drei Tage, dann fliegen wir zurück. Ich würde so gerne noch länger in Kanada bleiben, das gefällt mir hier total gut. Am liebsten wünschte ich mir, dass ich in der Welt alles gleichzeitig haben könnte: zu Oma und Opa fahren, Anne, und mit Papa weiter auf Tour sein. Aber das geht ja nicht.

Papa hat heute Morgen im Hotel gesagt: Komm´ Leo, wir lassen den Flug einfach sausen und bleiben in Vancouver. Aber da habe ich gesagt: Neeeiiin. Du hast ja deine Freunde nicht hier und kannst hier auch nicht arbeiten. Aber wir können ja wiederkommen. Ganz bestimmt. Ich möchte noch einmal nach Kanada. Das ist hier so toll!

Wenn Papa dann wissen will, was ich denn so besonders toll finde, dann habe ich ihm gesagt, dass er diese Reise gebucht hat, und dass wir den Camper hatten. So konnten wir immer woanders hinfahren und uns etwas anschauen. Wir haben so viele Sachen gesehen. Eben, als wir über die Rockys geflogen sind, waren unter uns noch einmal die ganzen Berge, Gletscher und Seen, der Lake Louise und Vancouver Island haben wir beim Start auch noch einmal gesehen. Und wir haben gesehen, dass die Feuer jetzt aus sind und kein Rauch mehr über den Bergen ist. Wir konnten die hohen Rockys mit den Gletschern und dem Schnee von oben sehen. Ich habe ja den Fensterplatz – wie immer.

Weil die Waldbrände endlich gelöscht sind, hatten wir die letzten zwei Tage in Vancouver auch richtig gutes Wetter, Sonne und blauen Himmel. Wir waren noch im Stanley Park und im Aquarium und sind dann am Hafen zu unserem Hotel zurückgelaufen. Das liegt direkt zwischen Hafen und der Stadt, von unserer Suite mit drei Zimmern konnten wir direkt auf das Meer blicken. Ich kenne mich da schon super aus und habe in Vancouver auch schnell alles wiedererkannt. Papa meinte ja, das Aquarium in San Francisco sei besser gewesen als hier in Vancouver, aber ich habe sofort gesagt: in San Francisco gab es keine Wale. „Stimmt“, hat er dann gesagt.

Wir sind mit dem Taxi zum Aquarium gefahren, weil wir nur noch wenig Zeit hatten. Da hat sich Papa mit dem Fahrer auf Englisch unterhalten. Ich habe alles verstanden und es ihm nachher gesagt. Da war er ganz überrascht. Ich habe ganz viel auf Englisch verstanden und mit den Leuten auch immer gesprochen; auch mit den anderen Kindern, mit denen ich an unserem letzten Abend auf dem Campingplatz gespielt habe. Ich habe Papa auch gesagt, was ich nicht so toll fand an ihm: dass ich da dann ins Bett musste, weil wir am nächsten Tag früh aufstehen mussten, um nach Vancouver zu fahren.

Aber sonst war alles in Ordnung mit uns. Ab und zu hat er mit mir gemeckert. Meistens, wenn ich nicht so toll gegessen habe. Aber wir haben uns immer so viel erzählt, dann habe ich darauf gar nicht geachtet. Papa sind Tischmanieren, wie er sagt, so wichtig. Ich kann das ja auch, manchmal denke ich an manche Dinge aber nicht. Oder wenn ich durch meine Damelei, wie er sagt, mal wieder irgendeinen Mist gemacht habe. Aber das ging schnell vorbei. Wir können beide ja ganz schnell vergessen und haben ganz viel Spaß gehabt, konnten auch oft über uns lachen. Besonders einmal, aber das erzähle ich nicht. Das ist unser Geheimnis.

Und ich habe ganz schön geholfen. Ich kenne ja diesen Camper aus dem letzten Jahr. Und ich will wieder damit losfahren. In Kanada hatte ich immer meine Aufgaben. Camper ausfegen, Sonnendach ausfahren, Wohnzimmer ausfahren. Und natürlich, wenn wir losgefahren sind, wieder einfahren. Außerdem habe ich Papa beim Einparken auf unseren neuen Plätzen immer gesagt, wie weit er fahren kann, rechts und nach hinten. Obwohl wir eine Rückwärtskamera hatten, war das immer ganz schön schwierig zu sehen. Der Camper war ja auch diesmal größer als im letzten Jahr. Und den Müll habe ich auch immer weggebracht, die Dosen, Flaschen und die Beutel.

Von den Bären und der Grizzly Lodge habe ich ja schon berichtet. Aber das werde ich nicht vergessen, als der Grizzly auf einmal hinter Papa war und er es nicht gemerkt hat. Und dann haben wir vor ein paar Tagen die Sonnenfinsternis beobachtet, aber nicht sehr lange, weil wir keine extra Brillen hatten. Papa hat mir aber gezeigt, wie sich der Mond vor die Sonne geschoben hat. Ich hatte Papas Sonnenbrille auf, aber es hat noch ganz schön lange vor meinen Augen geflackert.

Unsere Wanderungen durch die Rockys waren toll. Ich hatte jetzt ja richtige Wanderschuhe und konnte die Berge rauf und runter gehen, ohne dass ich abrutschte. Das war klasse, wir waren da immer ganz allein unterwegs und mussten immer aufpassen, dass keine Bären in der Nähe waren. Das war ganz schön spannend.

Wichtig war aber auch Fortuna. Dass Fortuna so oft gewonnen hat und auch im Pokal hat mich sehr gefreut. Da habe ich einmal sogar Mama angerufen und es ihr gesagt. Ich habe die Tabelle auf Kicker sofort fotografiert. Auch dass Schalke gewonnen hat, finde ich gut. Nur dass Höwedes nicht mehr Kapitän ist, finde ich doof. Papa sagt, der wird Schalke jetzt verlassen. Höwedes ist mein Lieblingsspieler bei Schalke. Papa freut sich auch noch über Bielefeld. Aber ich glaube, wenn die nach Düsseldorf kommen, gewinnt Fortuna.

Und wir haben uns immer ganz toll gefreut, wenn Theo und Thomas uns geschrieben haben im Blog. Das sind Papas Freunde. Und auch meine. Das haben wir dann immer zusammen gelesen. Das war ja auch oft ganz witzig.

Tschööööö bis zur nächsten Reise.

 

„Puh, ich kann nicht mehr!“

IMG_1179

Die Gedanken sind unsortiert. Dennoch beginne ich diesen Text, der ein letzter von dieser Reise sein soll. Ein Rückblick auf die vergangenen gut drei Wochen, auf eine intensive Zeit von Leo und Karl. Der Blues wohnt bereits in uns. Zuerst bei Leo, der schon seit zwei Tagen deutlich macht, dass er diese Zeit gern verlängern möchte, dass es ihn nicht von hier und nicht aus unserem Miteinander zieht.

Wir haben den Lake Louise, die Nationalparks hinter uns gelassen. Das ist schon so etwas wie ganz langsames Abschiednehmen von Kanada. Gestern noch in Banff, Einkäufe gemacht, durch Läden geschlendert, kleine Geschenke gekauft – hauptsächlich für uns selbst, für unsere Erinnerung an diese wunderbare Zeit in einer unbeschreiblichen Natur.

Seit dem Morgen bewegen wir uns nun mit unserem acht Meter langen 6,5 Tonner westwärts auf dem Trans-Canada Hyw No 1. Etwa 800 Kilometer sind es bis Vancouver, wir legen zwei Übernachtungsstopps ein, auf schönen Campgrounds an der Strecke mit beheiztem Pool und ein wenig mehr Komfort als üblich. Doch nach einem ersten Schwimmen und zwei Runden Minigolf macht der kleine Reisegefährte schlapp. Kein Fußball, er kuschelt nur auf meinem Schoß. „Der Bauch tut weh“. Ruckzuck wird er heiß, Fieber. Wo kommt das denn her? Norofen-Saft muss helfen. Und Vorlesen. Dann schläft Leo ein, seit halb sieben liegt er im Bett. T-Shirt, kurze Hose, Socken. Essen möchte er nicht mehr.

IMG_1174

Auch das – so hoffe ich jetzt – schaffen wir. Wir haben die gesamte Reise über alles geschafft. Und wenn mal was richtig ins kalte Wasser fällt, können wir darüber herzhaft lachen und vereinbaren, dass dies unser Geheimnis bleibt. Die kleinen Malaisen des Reisealltags sind gar nicht mehr präsent und vergessen, bis auf den abgerissenen Stromanschluss am Camper, der uns jeden Tag aufs Neue beim Einstöpseln beschäftigt. Lustig ist es meistens erst im Nachhinein, auch weil Leo absolut positiv nach vorn denkt und handelt. Bis auf den ersten Tag, den uns die Lufthansa beim Start durch ihr desolates Flight-Management kostet, bleibt nichts Negatives im Gedächtnis haften.

Gespannt bin ich auf Leos Rückblick. Was ist ihm wichtig, was hat ihn besonders beeindruckt? Gänsehaut pur hat er mir schon auf dem Rückweg vom Lake Louise bereitet. Bei meiner Frage zur Mittagszeit, ob die letzten zwei Stunden am See und vor dem Gletscher denn nun das Highlight der Reise gewesen seien, oder doch die Grizzly Lodge, schaut er mich an und stellt die Gegenfrage: „Was glaubst du?“ „Ich weiß es nicht, sag du“, antworte ich. Da kommt nur ein Wort: „Papa!“ Und er strahlt mich an.

IMG_1195

Da ist man erst einmal total baff, sprachlos. Und bleibt es auch. Welche Antwort soll der Vater seinem Sohn darauf geben? Genau, keine. Eher stellen sich die Fragen nach dem Warum? Eigentlich hat Leo die Antworten die gesamte Reise immer wieder gegeben, zwischendurch bei unseren vielfältigen Diskussionen über den Tagesablauf, den wir immer gemeinsam entschieden haben, bei unseren kleineren Differenzen, bei schlechter Laune von Leo oder von mir. Er hat immer wieder betont, dass dies genau sein Urlaub sei, so möchte er verreisen. Leo möchte sehen, erleben, lernen, genau so wie wir das jetzt das jetzt schon zum dritten Mal im zweiten Jahr machen. Das Traveler-Gen kann diesen kleinen Kerl keiner mehr nehmen.

Auf meine nicht nur einmal gestellte Frage, ob er denn nicht lieber mal an den Strand oder in ein Hotel möchte, wo auch andere Kinder sind, kommt umgehend ein ablehnendes „Nein“. Der nun in drei Wochen Siebenjährige überlegt lieber, wo unser nächstes Ziel liegen könnte. „Die andere Seite von Amerika“, also die amerikanische Ostküste, würde ihn schon sehr reizen. Verwunderlich ist das nicht. Nordamerika hat es ihm angetan. Wenn wir einchecken, in Geschäfte gehen, mit anderen englischsprachigen Menschen zu tun haben, versteht Leo inzwischen den Inhalt und teilt ihn mir auch flugs nach den Begegnungen mit. Fünf Jahre bilinguale Kita, ein erstes halbes Jahr Schulenglisch und unsere Reisen nehmen ihm jede Scheu vor der Sprache. Mit Nachbarskindern geht er auf den Playground, wenn Erwachsene ihn ansprechen versteht er es meistens und antwortet mit wenigen Worten. Leo ist vertraut mit dem Leben auf dem amerikanischen Kontinent, kennt sich an den Stationen des täglichen Bedarfs aus und erledigt eigenständig Dinge, die unser Leben angenehmer machen.

Kanada und die USA sind ja so unterschiedlich nicht, das gleiche Essen (jeden Abend Fleisch vom Grill), die gleichen Autos (überwiegend Pick-ups), die gleichen Verkehrsschilder und Straßen. Die Menschen führen hier wie dort die gleichen Körperumfänge spazieren, wobei die kanadische Frau eine noch extremere Lust zu ausladenden Rundungen verspürt. Und sie auch zeigt – mit enganliegenden Tops, Leggins oder auch ausgefallener Bademode. Dafür ist der Kanadier entspannter und gelassener, als die zuweilen sehr aufgeregten und überdrehten Amerikaner. Wir lieben es, hier wie dort. Und so wie es ist.

Unterbrechung um 9 Uhr am Abend. Leo ruft und bittet mich an seine Seite. Das Fieber ist immer noch da. Eine lange Nacht, zwölf Stunden Tiefschlaf mit einmal zwischendurch trinken, und schon ruft er mir am Arm. „Papa, hab kein Bauchweh mehr“! Das ist mal ein Wecken. Fieber ist auch weg. Nächster Satz: „Ich habe Hunger“. Okay, der normale Tag nimmt seinen Lauf: einpacken, losfahren, lange Fahrt bis vor die Türen von Vancouver. Harrison Hot Springs, wirklicher Luxus dieser Campground. Drei Pools – und nette Nachbarn. Es ist jetzt gleich halb 10 und Leo ist mit den Kindern von rechts und links immer noch unterwegs. Jetzt wird iPhone gespielt, was sonst – haben sie ja inzwischen alle, die Kids. Doch zuvor hat der Kleine beim Aufräumen, Putzen und Kofferpacken kräftig mitgemacht. Und gegessen hat er zwischendurch auch – selbstgemachten Cheeseburger, ohne Brot dafür mit Spaghetti Puttanesca.

IMG_1025

Das ist so eine Sache, auf die Leo wert legt. Und die mich fordert. Essengehen – nein danke. Kochen Zuhause, wofür haben wir denn unsere Luxusküche mit Riesenkühl- und Gefrierschrank, Mikrowelle und Gasherd? My home is my castle. Die Welt erkunden mit dem Camper – das ist genau Leos Ding. Und meines auch, sonst würden wir es ja nicht machen.

Jeden Tag kochen, Abwaschen, den ganzen Tageskram, der auch in der Woche Zuhause anfällt. Muss das sein? Rituale müssen bei Leo sein: gemeinsames Frühstück, sonntags natürlich mit gekochtem Ei. Wie in Düsseldorf, so auch hier. Nur dass der Junge um 8 Uhr zur Schule gebracht werden muss, fällt auf unseren Touren aus. Im Gegenteil: wir sind die Langschläfer an jedem unserer Orte und ganz selten vor 10 Uhr zu unseren Tagesexkursionen aufgebrochen. Wo Zuhause Schule und Kinderfrau das Tagesprogramm gestalten, bin ich nun gefragt. Dreieinhalb Wochen, 24 Stunden rund um die Uhr DER EINZIGE wichtige Ansprechpartner zu sein, das ist schon etwas Besonderes in einer Vater-Sohn-Beziehung. Und anstrengend.

Wo bleibe ich dabei? In diesen 24 Tagen gibt es den einen oder anderen Punkt, an dem ich japse und denke, wenn ich nach Hause komme, brauche ich erst einmal eine Woche Urlaub. Und am liebsten dann ganz allein, ohne dass mich jemand anspricht. Eine Pause im Klappsessel vor dem Camper in der Sonne bei einer prickelnden Dose Canada Dry ist die absolute Ausnahme. Geert Maks „Amerika“ sollte meine Urlaubslektüre werden, gerade mal 17 von den 612 Seiten habe ich geschafft. Das hört sich dramatischer an, als es in Wirklichkeit ist. Aber an den Tagen unserer Extremwanderungen erreiche ich die Belastungsgrenze. „Puh, ich kann nicht mehr“, habe ich nicht nur einmal gestöhnt. Leise vor mich hin.

Dabei sind gerade die Wanderungen eine absolut neue Erfahrung auf unseren Reisen. Dass wir gut laufen können, wissen wir. Unser Rekord liegt bei mehr als 23.000 Schritten in San Francisco, an einem Tag. Dass wir lange Strecken im Camper oder in anderen Fahrzeugen problemlos zurücklegen können, haben wir auch dieses Mal bewiesen. Insgesamt 3.200 Kilometer. Doch in Erinnerung bleiben die ausführlichen Gespräche. Mal sind sie sehr privat, das bleibt dann unter uns. Oft sind sie von Leos Wissendurst geprägt. Über Stock und Stein, wie es so schön heißt; durch den trocknen Staub des ausgedörrten Waldbodens in Kanadas ausgedehnten Wälder. „In Düsseldorf machen wir das auch“, wünscht sich Leo. Ganz sicher setzen wir unsere neue Leidenschaft im Aaper Wald oder am Niederrhein fort.

P1020269

Auch unsere Gespräche, die Leo immer wieder in eine politische Richtung lenkt. Die Themen seiner Kinder-Tagesschau Logo auf Kika speichert er einfach komplett ab. Die Information (kommt von mir), dass US-Präsident Trump die Gewalt von Rechtsextremisten und Neonazis unterstützt, empört den jungen Mann nicht nur, sondern er schließt gleich einen Gedankenkreis zu Erdogan und Hitler. Wie so oft landet Leo in seinen Erzählungen mit einem unglaublichen historischen Wissen schnell beim 2. Weltkrieg, beim 1. Weltkrieg mit dem Attentat in Sarajevo und beim Stauffenberg-Attentat, dass die Aktentasche mit der Bombe am falschen Platz gestanden habe und es eine Fehlzündung gab. Die länger als eine Stunde dauernde Diskussion zur Mittagszeit auf kurvenreicher, schwieriger Strecke gipfelt in seiner Analyse, „wenn die engsten Vertrauten von Hitler sich gegen ihn gestellt hätten, dann hätte man ihn doch stoppen können und dann wären nicht so viele Juden umgebracht worden“. Dieser fast Siebenjährige glänzt bei seiner politischen Argumentation mit unfassbarem Detailwissen. Dass mir dann die ein oder andere Begebenheit nicht präsent ist und ich nachfrage: „Woher weißt du das?“ erstaunt ihn. „Aus deinen Büchern“. Okay. Dort verbringt er manche Zeit, blättert – und liest inzwischen auch. Politik ist Leos absolutes Lieblingsthema.

IMG_1140

Die Frage, ob es überhaupt Sinn macht, mit einem so jungen Kind solch anspruchsvolle Reiseziele anzusteuern, wie wir es tun, kann mit einem klaren Ja beantwortet werden. En Detail erinnert Leo sich bei vielen Gelegenheiten an unsere US-Reise vom vergangenen Jahr und beschreibt Besonderheiten, über die ich erst nachdenken muss. „Papa, weiß du denn nicht?“ Doch weiß ich. Aber ich habe noch viele andere Dinge im Kopf und zu bedenken. Hier auf unserem Trip, damit alles funktioniert. Und überhaupt. Leo dagegen kann aufsaugen und abspeichern.

Als er eben zu Bett gegangen ist, haben wir kurz darüber gesprochen, dass wir unseren Camper morgen abgeben. Die Frage, ob wir unseren Adventurer im nächsten Jahr wieder nehmen, beantwortet Leo kurz und knapp. „Ja! Aber wir fahren nur nach Amerika, wenn Trump nicht mehr regiert“. LET´S GO!

IMG_1222

Kleine braune Kinderaugen werden ganz groß

IMG_1149

„Ja gut, dann aber zwei Müsli-Riegel, einer mit Schoko, einer mit Früchten“, mault Leo. Die Vereinbarung vom Abend zuvor, am nächsten Morgen ohne Frühstück hinauf zum Lake Louise und zum Gletscher zu fahren, findet er jetzt nicht mehr so toll. Zunächst haben wir uns eine Stunde länger als vorgesehen im Bett gegönnt, jetzt auch noch schnell nach Katzenwäsche und Zähneputzen losfahren? Nichts für den jungen Mann. „Ich habe Hunger!“ In Leos Adern fließt noch dickeres Blut des westfälischen Gewohnheitsmenschen, als bei seinem Vater. Alles muss stimmen, seine Ordnung und seinen geregelten Ablauf haben. Sonst geht fast nichts. Schon gar nicht am Morgen. Dabei betont er doch immer wieder gern, Düsseldorfer Jong zu sein.

Der Kompromiss mit den Energieriegeln kommt zu spät. Wir fahren die fünf Kilometer kurze Strecke von unserem Campground hinauf. Über uns klarer blauer Himmel, das beste Wetter einfach, um hier zu sein, den Gletscher und das türkisfarbene Wasser davor leuchten zu sehen. Als wir das wie in einer Schaufel liegende ewige Eis schon von der Straße aus vor uns sehen, bekommt Leo einen Flash. „Gigantisch!“ stößt er hervor. Doch ebenso haben wohl viele andere gedacht, die früher aufgestanden sind als wir. Alle Parkplätze sind belegt, wir werden freundlich wieder talwärts geleitet. Linker Hand, auf halber Strecke, ein wunderbarer Rastplatz unter Tannen. Wir stellen unseren Adventurer ab. Brauchen wir Wanderschuhe? „Das ist doch leicht, das machen wir mit unseren Turnschuhen“, entscheidet der Kleine. Er will keine Zeit verlieren und hoch zum See, zum Gletscher, ist ganz heiß.

P1020228

Die Sonne wärmt. Ein wunderschöner, erlebnisreicher Sommertag in den Rocky Mountains beginnt. Rechts vor dem Felsenmassiv liegt das majestätische Fairmont Chateau Hotel, in dem ich vor Jahren einen Tag und eine Nacht zubringen durfte – See- und Gletscherblick inklusive. Leo: „Das sieht ja aus wie ein Schloss!“ Es war ein Schloss, das vor etwa 130 Jahren an diesem Ort unterhalb des 3543 Meter hohen Mount Temple erbaut wurde. Flugs haben wir die zwei Kilometer bis zum Seeufer bewältigt.

P1020213

Kleine braune Kinderaugen werden ganz groß. Es ist, als hielte der Junge den Atem an. Wir stehen, schauen, dann zückt er die Kamera und fotografiert. Zeigt mir sofort die Ergebnisse und ist ganz stolz, hier zu sein. Leo setzt sich ans Ufer, blickt hinauf zu den Gipfeln, über das Wasser, er will hier verweilen und genießt. Auch für einen Viel- und Weitgereisten ist dieser Augenblick, diese wahnsinnig miteinander korrespondierenden Farben in sich aufzunehmen, überragend. Wir haben das Glück, dass sich hin und wieder ein paar Wolken vor die Sonne schieben. Wenn das Sonnenlicht am Gletscherrand beginnend das dunkle Blau des Schattensees vertreibt und das helle Türkis des Wasser zunächst wie ein dünner Strich immer breiter werdend über das Wasser wandert, entfährt einem nichts anderes als ein „Wow!“ Leo hat es genau gesehen und jede Phase bildlich festgehalten. Er ist hin und weg, auch von seinen Fotos.

P1020212

Natürlich wollen wir auch welche von uns, hier an diesem Ort. Gut, dass drei junge Chinesen vor Ort sind, die mich fragen, ob ich sie gemeinsam vor der Kulisse ablichten könne. Ein Dreiminutenevent samt Kamerawechsel – sie haben ihr Bild, wir unseres. Wobei Leo mit seiner Kamera immer öfter Fotos von mir produziert. „Papa, bleib mal stehen, stell dich mal hin“, und dann das unvermeidliche Foto, das ich schon immer an allen Orten dieser Welt so geliebt habe – wenn sich Asiaten vor jedem Baum, vor jedem Strauch in Positur stellten und abklickten. Aber jetzt ist es ja der Sohn.

So vernehme ich am Nachmittag bei der Rückfahrt aus dem atemberaubenden Yoho Nationalpark, wie er sagt: „Ha, tolles Foto, Papa mit Handy beim Autofahren“! Da hockt dieser kleine Kerl auf dem Beifahrersitz, beobachtet mich heimlich bei Dingen, die er gar nicht sehen soll und hält diese auch noch als Foto fest. Wann er es gemacht hat? Keine Ahnung. Leo räumt gerade seine Speicherkarte auf und muss Fotos löschen. An den Takakkaw Wasserfällen, die aus 254 Meter Höhe ins Tal stürzen, geht nämlich nichts mehr drauf auf den Chip. Das Handy-Foto, da bin ich mir sicher, hat er nicht gelöscht.

P1020264

Auch viele andere nicht, die wir an diesem Tag bei unseren Exkursionen rund um den Hauptkamm der Rocky Mountains gemacht haben; bei unseren Wanderungen durch das Yoho Valley mit dem Blick in die Weite, den farblich sehr unterschiedlichen Gesteinen, von hellem Gelb bis zu sehr dunklem Grau. Nicht zu vergessen der Wasserfall, der sich getrennt von uns durch den sich daraus bildenden reißenden Fluss, aus den Höhen ergießt. Doch Leo ist sich ganz sicher, dass wir da direkt hinkommen und treibt mich in eine Richtung. „Da ist ein Weg, da kommen wir hin, das weiß ich“. So, so! Aber richtig, da ist eine Brücke – nichts wie hin. Leo schwärmt erneut vom Wasserfall im Yosemite im vergangenen Jahr und vergleicht ihn mit dem Takakkaw. Doch hier stürzen gewaltigere Wassermassen zu Boden als im kalifornischen Nationalpark. Leo ist nicht mehr zu halten, als er gesehen hat, dass Jugendliche über die nassen rutschigen Steine ganz nah ans Wasser heranklettern. Ich muss es meinem Klettermaxe nun strengstens untersagen, auch nur noch einen Schritt weiterzugehen. „Dann mach´ wenigstens ein Foto, das so aussieht, als wenn ich da hoch klettere“, sagt er. Ich bin baff. Der hat Ideen.

P1020294

13.881 Schritte auf 9,4 Kilometer sind wir heute unterwegs gewesen. Am Abend fällt das übliche Kicken aus, wir wollen noch ein wenig „wandern“, wie der Junior es ausdrückt. Also ans Ufer des Bow River, der unseren Campground auf der anderen Seite begrenzt. Es ist schon kurz vor neun am Abend, und wir genießen noch einmal den Blick auf die schneebedeckten Gipfel. Morgen soll es etwas ruhiger werden. Wir starten zunächst mit einer sieben Kilometer Wanderung entlang des Rivers, so ist es verabredet worden. LET´S GO!

IMG_1166

Wie schön könnte es sein – ohne diesen Rauch!

P1020057

Was für Farbenspiele. Erst grün, dann grau, auf weiß folgen türkis und blau, zum Schluss ein leuchtendes Rot. Die Transferfahrt vom Jasper National Park in den Banff National Park auf dem Iceland Parkway ist wohl eine der spektakulärsten Routen auf dem Globus. Etwas mehr als 220 Kilometer führen aus dem grünen Jasper-Tal entlang des Athabasca River hinauf in die kargen Felshöhen der Rocky Mountains. Bizarre Felsformationen rechts und links des sich windenden Asphaltbandes lenken die Augen immer wieder von der Straße ab. Aber: auf dieser phantastischen Strecke ist man an diesem Tag bisweilen einige Kilometer sogar ganz allein unterwegs.

P1020115

Getümmel findet sich an den Orten phantastischer Naturereignisse, die wir nicht nur aus der Fahrerkabine unseres Campers betrachten wollen. Den ersten Stopp legen wir schon nach 15 Kilometern ein, es werden noch ungefähr zehn weitere folgen. Athabasca Falls! Was für eine gewaltige Kraft dieser hellgrüngrau schimmernde breite Strom in der Enge entfacht, durch die sich diese Wassermassen im Felsgestein ihren Weg gefräst haben. Für Leo, der sich schnell erinnerte, dass wir im vergangenen Jahr im Yosemite Nationalpark in Kalifornien unter einem mehr als 100 Meter hohen Wasserfall „geduscht“ haben, ist dieser tosenden River noch mal ein besonderes Erlebnis.

P1020132

Weiter geht´s. Der Athabasca verbreitert sich auf manchen Hochebenen in viele kleinere Flussarme, dahinter ragen die kantigen Rockys auf. Doch das schroffe Gebirge verschwindet immer mehr hinter einem dunstigen Filter. Und wir ahnen: der kräftige Regen vor einigen Tagen hat die Waldbrände nicht erstickt. Immer dichter legt sich das dichte Grau in der Luft um die gebirgigen Höhen und wir können nur noch erahnen, dass uns rechts und links Gebirgsketten, steil aufragende Gipfel und hoch oben darüber eine helle Sonne begleiten. Zu sehen ist (fast) nichts.

P1020181

Welche Enttäuschung. Wir sehen in Umrissen zwar den 3491 Meter hohen Athabasca, auf der gegenüberliegenden Seite ragen weitere Gipfel gleicher Dimension auf, doch das dazwischen ausgebreitete Columbia Icefield versinkt im suppigen Dunst. Von nun an reihen sich Gletscher an Gletscher. Die Sicht wird aber besser, je weiter wir fahren. Am in einem atemraubenden türkis leuchtenden Lake Bow scheint sich das darüber hängenden Eismassiv geradezu ins Wasser zu stürzen. Ein Halt lohnt, die Fotos sind im Kasten. Wie auch an den Stationen zuvor.

Am Abend zeigt sich dann, wer an diesem rauchigen Reisetag die besseren Fotos gemacht hat – bei gleicher Kamera-Ausstattung: Leo! Ganz eindeutig. Warum auch immer, hat er oftmals die bessere Perspektive gewählt, das bessere Auge gehabt; und seine Optik hat irgendwie den Rauch herausgefiltert. Wie überhaupt der Junge einen Blick für alles Schöne, Seltene und Besondere entwickelt hat. Oftmals entdeckt er kleinste Fische oder Krebse im Wasser, wo man keine vermutet. Oder nach einem Hinweis auf dieses oder jenes kontert er knapp: „Hab´ ich schon gesehen!“ Wie alles in seiner digitalen Welt erledigt Leo nach einem Jahr Handy-Fotografie nun seinen Einstieg in die Kamera-Fotografie im Schnellverfahren. Dass er die diversen Funktionalitäten des Gerätes dabei schneller im Griff hat als es mir jemals vergönnt sein wird, muss hier nicht besonders erwähnt werden.

Mein technisches Geschick zeigt sich am Abend. Nach einer quälenden vorhergehenden Nacht auf einem abschüssigen Gelände des Wabasso Campgrounds im Jasper Nationalpark freuen wir uns gerade über einen wunderschönen geräumigen Platz am Lake Louise. Kein Rauch mehr am Himmel, der sich blau über uns spannt. Und endlich wieder Strom. Angeschlossen – und dann noch ein wenig den Camper rangiert, um es noch ein wenig gemütlicher am Außensitzplatz zu haben. Raaaatsch! Anschlussdose aus dem Wagen rausgerissen, Kabel aber noch dran. Das schwarze Superklebeband – aus Düsseldorf extra für solche Fälle ins Gepäck gestopft – hilft. Vergessen!

P1020074

Noch nicht ganz vergessen ist der Tag zuvor. Er steckt in den Gliedern. Mir jedenfalls. Was für eine Wanderung. Dabei beginnt der Tag so sanft. Am Pyramid Lake spielt Leo eine Weile am Sandstrand – ja das gibt es hier auch. Bis wir dann ans Ende des Gewässers fahren, uns noch einmal stärken mit Müsliriegel und Obst, unsere Wanderschuhe anziehen, dann geht es los. Wieder knapp zehn Kilometer, hoch, hoch, hoch. Und weiter, weiter, weiter. Menschen, die mit uns ziemlich zeitgleich losgegangen sind, kehren um. Lächeln, schmunzeln, als sie uns beiden sehen, wollen nicht weiter. Auf den letzten vier Kilometern begegnet uns niemand mehr. Aber wir schaffen es. Leo lässig, wie immer. Ohne eine Minute Quengeln, Jammern oder erschöpft sein. Allein mit der Natur, mit den Gesteinsbrocken, dem Staub und den Baumwurzeln unter uns, mit den Eichhörnchen, die unseren Weg kreuzen, und mit unseren wunderbaren Gesprächen.

Am Abend brennen die Muskeln. Leo nimmt nur eine warme Dusche und jubelt: „Wie erfrischend!“ Der kleine Ärger mit dem schlechten Stellplatz hält nicht lange an, wir machen das Beste daraus: Caesars Salad & Chicken. Nach einigem Hin- und Herjonglieren des Fahrzeugs – ohne Stromanschluss – gelingt es sogar, die Waage so auszutarieren, dass ein Maurer nach vier Bier und Korn glauben könnte, er habe einen glatten Estrich verlegt. Die Nacht ist jedenfalls eine Katastrophe, mit dem Kopf nach unten im Bett, die dadurch leicht erhöhten Beine im permanenten Muskelzucken, und im Kopf das ein oder andere (natürlich die Arbeit) – wie soll man da schlafen? Natürlich so gut wie gar nicht.

Mal sehen, wie es gleich wird. Gerade ist mit lautem Getöse und Gehupe der fünfte Güterzug in einer Entfernung von 20 Metern an uns vorbeigequietscht. Offenbar scheinen die beiden Parks auch noch mit einer der wichtigsten Schienenstrecken Kanadas verbunden zu sein. Bereits in Jasper legen diese bekannten kilometerlangen Frachtzüge in Permanenz den Straßenverkehr still. Das scheint in Lake Louise nicht anders zu sein.

P1040258

Doch direkt hinter der Bahnstrecke erheben sich diese wundervollen schroffen Felsen der Rocky Mountains, die heute Abend in sattem Rot brennen. Leos Kommentar: „Wie im Film!“ Ich bin gespannt, was er morgen früh sagt? Noch vor dem Frühstück wollen wir zum Lake und dann auf den riesigen Gletscher schauen. Bei Sonnenschein, so ist es vorhergesagt. LET´S GO!

P1020141

 

Hohe Politik in der grünen Hölle

(Fotos werden nachgeliefert bei einer leistungsfähigen Wifi-Verbindung)

14.405 Schritte, 10,6 Kilometer, 39 Stockwerke. Nein, wir haben nicht am Wettrennen im Treppenhaus des Empire State Buildings in New York teilgenommen und nach einem Drittel der Strecke aufgegeben. Wir haben unseren ersten Outdoor Tag im Jasper Nationalpark hinter uns und liegen nun glücklich und geschafft in der Koje (Leo) oder sitzen hier im Dunkeln vor diesem leuchtenden Laptop bei einem Ginger Ale und freuen uns über bewegungsreiche Stunden in unendlich schöner Natur.

14.405 Schritte bedeuten zwei Wanderungen, eine am Vormittag und eine im Anschluss an unsere Mittagspause mit viel frischem Obst und Joghurt. Der kleine Anstieg über felsige Klippen steil nach oben auf den 1170 Meter hohen Old Fort Point (39 Stockwerke Höhenunterschied) mag für erfahrene Wandersleut´ ein Klacks sein. Für Leo ist es das auch. Er eilt immer 20 Meter voran, dynamisch, mutig, sicher. Ich krieche die ersten steilen 100 Meter still vor mich hin schnaufend hinterher und bekomme den bekannten Höhenschwindel, der mich seit Jahren befällt, wenn ich zur Winterzeit das schneeweiße Riesenrad auf dem Düsseldorfer Burgplatz besteige. Der betagte Körper muss sich an solche Herausforderungen halt erst gewöhnen, dann geht es. Und wie!

Die Wanderschuhe, die ich vor zehn Jahren für die erste Reise nach Vancouver Island gekauft hatte, geben mir Halt und Sicherheit und sorgen für Spott des Kleinen: „Dann hast du dir die ja vier Jahre bevor ich geboren wurde gekauft“. Lächelt und marschiert weiter. Hinauf. Natürlich gibt es das Gipfelfoto. Aber auch eine grandiose Sicht auf den Athabasca River. Das grün schimmernde klare Wasser, das in verzweigten Armen sich auf kalkfelsigem Gestein in hoher Fließgeschwindigkeit den Weg durch das Jasper-Tal sucht – auf der einen Seite. Auf der anderen strahlt in dunklem Blau und hufeisenförmig der Lac Beauvert zwischen dichten Fichtenwäldern.

Nach dem Gipfelsturm bleiben wir zusammen, der Weg hinunter schlängelt sich durch dichten Wald. Leo ist in Diskutierlaune und setzt seine Themen vom Vorabend fort. Beim Abendessen wird vom Kleinen mal wieder politisier. Zum Einstieg gibt es Trump, was sonst? „Gegen den ermittelt jetzt ja die Geheimpolizei, weil Russland ihm geholfen hat bei der Wahl“, sagt Leo. „Der könnte dadurch auch stürzen!“ Okay. Also haben wir die Welt betrachtet, die großen Widersacher in der Weltpolitik, USA und Russland und ihre Präsidenten dazu. Dass Putin kein Freund von Trump ist, ihm aber dennoch geholfen hat, ist eine schwierige Materie, aber Leo will dazu eben alles wissen. Wir landen bei den Interessen von Ost und West, beim 2. Weltkrieg und den beiden Deutschlands, beim Zusammenschluss und beim letzten großen Krieg in Europa in Jugoslawien, aus dem nun Kroatien, Serbien und Bosnien entstanden sind (Mazedonien und Slowenien habe ich geschlabbert). Das Interesse daran steigt noch mehr, nachdem er erfahren hat, dass sein Vater in diesem Krieg als Reporter unterwegs war. „Hattest du vor den Bomben keine Angst“?

Unser Abendtisch ist gedeckt mit Spaghetti Tomatensauce. Sein Wunschgericht, zwei große Portionen. Wie überhaupt Leo sich mit einem Gang des was auch immer wir hier kochen nicht zufrieden gibt. Morgens zwei bis drei Brote mit Nutella, Leberwurst oder Frischkäse, am frühen Nachmittag abwechslungsreiche gesunde Snacks, abends darf es kräftig-deftig sein. Heute wird für morgen schon Fischstäbchen mit Gemüse bestellt. Alles da. Zurück zur Pasta. Auch darüber wurde natürlich gesprochen. Wie die italienische Pasta nach Deutschland kam, wie Italiener Spaghetti essen – mit der Gabel auf dem Teller eindrehen, macht Leo jetzt auch – , und wie es die (meisten) Deutschen machen – mit dem Löffel als Hilfsbesteck. Über die italienische Restaurantkultur vorzugsweise in Düsseldorf, und warum Italiener vor über 50 Jahren überhaupt nach Deutschland kamen.

Themen der Morgenwanderung: Arbeitssklaven, die ja heute verboten seien, die bei Ägyptern die Pyramiden gebaut, bei den Römern die Schiffe gerudert hätten; über die Todesstrafe, die es in Amerika ja noch gäbe, in Europa aber nicht; dass Diebe ja gar keine schlimmen Verbrecher seien wie Mörder und Terroristen, die andere Menschen umbringen. Noch nicht genug? Wenn die Schutzschicht der Erde immer dünner wird, dann könnten Meteoriten auf der Erde einschlagen, die dann nicht mehr verglühen. Höhepunkt der Endzeitsphantasie ist dann die Vorstellung, wenn es keine Frauen und Mädchen mehr auf der Erde gäbe, nicht nur bei den Menschen sondern auch bei den Tieren, könnte es irgendwann passieren, dass die „Erde im Universum ein toter Planet ist“.

Zum Glück kann Leo seinen Drang, alles aus Politik, Geschichte, Natur und Geographie wissen zu wollen – „los Papa sag, ich will das jetzt wissen“ – auch komplett umswitchen. Beim Nachmittagsspaziergang auf leichterem Terrain entlang des Rivers bis hin zum blauen Lac sammelt er diverse Hölzer, schlendert immer zehn bis 20 Meter hinter mir her, spricht ununterbrochen und sagt nur: „Papa ich spiele!“ Phantasiespiele, wieder mit Guten und Bösen, die dann anschließend auf unserem Campground noch zu Ende geführt werden und das Schnitzmesser an den Laserwaffen (Hölzer) Verfeinerungen durchführen muss. Immerhin kann ich Leo am See noch nahebringen, dass es im Jasper Nationalpark fast 1000 verschiedene Blumenarten gibt – genau 996, die am Wegesrand blühen. Und wir entdecken kranke Bäume, die von Ameisen von innen ausgehöhlt worden sind. Leo: „Die wohnen da jetzt drin, mit Ein- und Ausgang!“ Und zeigt auf zwei in die Rinder gefressene Löcher.

Die Natur ist sensationell. Ein schöneren Stellplatz als diesen, mitten im Wald, ohne Strom und Wasser und Wifi, haben wir auf dieser Reise nicht gehabt. Der Campground ist ausgebucht, doch die nächsten Nachbarn sind einige zehn Meter entfernt. Alles geht hier entspannt zu. Die sanitären Anlagen sind in einem brillanten Zustand (und verfügen über reichlich Steckdosen, an denen wir unsere Geräte laden), ebenso der enorm aufwändig gestaltete Playground mit einem Kletterparadies für Leo. Und das alles unter staatlicher Regie von äußerst freundlichen und engagierten Rangern in den Naturreservaten. Erstaunlich, denn in den USA ist das genau anders herum – verwahrlost und von missmutigen Menschen verwaltet.

Auf jeden Fall hat die Gedankenfreiheit auf der Nachmittagswanderung mir die Idee gebracht, doch mal mein Handy (mit dem wunderbaren Telekom Magenta EINS Tarif) als HotSpot zu versuchen. Es klappt. Nun bin ich mal gespannt, ob dieser Text es in dieser natürlichen Welt auch in den Blog schafft.

 

 

Welch ein Segen, endlich Regen!

IMG_1087

An Tagen wie diesen fällt es ungemein schwer, sich abends hinzusetzen, um den ein oder anderen Gedanken aufzuschreiben. Warum tue ich das? Für Leo bestimmt, wenn er in ein paar Jahren nachlesen möchte, wo wir uns in seinen jungen Jahren schon alles rumgetrieben haben. Für mich auch. Und für den einen oder anderen daheim, der unsere Touren aktuell verfolgt. Zugegeben, jetzt läge ich lieber die ca. zwei Meter hinter mir unter der warmen Decke und würde lesen, vielleicht auch schon schlafen.

IMG_1033

Nun aber das Gute zuerst. Es hat heute geregnet. Und wie! Geschüttet hat es zeitweilig. Nach der Hitze und dem permanenten Rauch der Waldbrände haben wir endlich Wasser von oben. Die Menschen in British Columbia haben diesen Tag seit mehr als einem Monat herbeigesehnt. Ob es genützt hat, die Feuer einzudämmen, können wir hier auf einem wundervollen Campground nahe den Eisplateaus in den Rockys nicht abschätzen. Nur dass der entsetzliche Qualm, der über dem ganzen Land hing, nun endlich abgeregnet ist, können wir besichtigen. In einer kleinen Regenpause heute Nachmittag zeigt sich während einer kurzen Wanderung das erste Mal in diesen nun fast zwei Wochen ein kleines Stückchen blauer Himmel. Und sofort taucht die Sonne die Natur unterhalb des Mount Beaver in ein wundervolles Licht, die Bäume werfen lange Schatten.

IMG_1090

So etwas wird natürlich sofort von uns fotografiert. Einzig, die Fotos werden wohl auch diesem Text nicht beigefügt werden können wie schon dem ersten Blog von Leo heute Nachmittag. Das Internet in diesen Regionen hat eine Leistungsstärke, wie man es vielleicht noch weiter oben im Niemandsland Alaska erwartet. Bemerkenswert, schließlich liegt die Denkschmiede der neuen digitalen Welt sozusagen in der Nachbarschaft, im kalifornischen Silicon Valley. Manchmal ist es einfacher, aus einem der am wenigsten industrialisiertesten Länder der Welt wie Laos mit stabilen Internetverbindungen zu kommunizieren, als aus einem Land wie Kanada, das im Klub der großen 20 mitentscheidet. Besser wird es in den nächsten Tagen bestimmt nicht, denn wir campieren nun länger als eine Woche in den Nationalparks Jasper und Banff, wo wir auch auf alle anderen Facilities durch eigenes Mitbringen angewiesen sind, also Strom (Generator), Wasser (Tank), Gas (Tank) und Abwasser (Tank). Warum sollte ausgerechnet dort W-lan – oder wie man es international bezeichnet WiFi – funktionieren?

IMG_1114

Manchmal ist der Frust eben da. Kalte Füße, kalte Nase, nur Kaltgetränke, die nicht wärmen. Und dann hat mich Leo heute Abend auch noch im Schach geschlagen. Durch zwei dumme Züge, die ich zum Schluss gemacht habe und nicht mehr aus der Schachmatt-Falle heraus kam. Was für ein Jubel beim Kurzen! Der vergnügt sich übrigens bestens. Der Campground ist wirklich wunderbar, grüne Wiese direkt am breiten Fraser River, ein ideales Terrain zum Kicken – wenn es nicht regnet. Es ist immer was los. Die An- und Abfahrten der einheimischen Wohnmobilisten sind für Leo große Momente. „Da kommt wieder so ein Großer, der ist aber kleiner als unserer, der kann vier Sachen rausfahren…“ – und so weiter. Leo erkennt die Modelle der „Monster“, die Amis und Kanadier hinter sich her ziehen. Er umkreist sie, begutachtet, fotografiert. Und schlägt mir dann vor, auf welche Extras wir vielleicht im nächsten Jahr noch achten müssten oder welche Größe ich mit meinem Führerschein noch fahren könnte. Auf meine Antwort, wir müssten uns ja erst einmal ein Ziel aussuchen, kam er gleich mit einem Vorschlag: „Wir können doch jetzt mal auf die andere Seite von Nordamerika fahren.“

 

Wir sind schon erstaunt, wer so alles mit den großen Wohngefährten so unterwegs ist. Dabei sind interessante Typen. Ein hagerer, schätze mal knapp 80-Jähriger mit seiner etwa gleichaltrigen noch dürreren Frau, begegnet uns zunächst am Washroom mit folgenden Selbstgespräch: „Here is women, no smoking. Men, no smoking!“ Dann dreht er um, in seinen Daktari entliehenen weiten weißen Kurzhosen, die bis zum Knie reichen. Die beiden wackeln langsam davon und Leo sagt: „Der kann ja gar nicht mehr richtig gehen.“ Kurze Zeit später passieren wir das Fahrzeug dieses Pärchens. Das Kennzeichen zeigt einen Ort, der mir zunächst die Sprache verschlägt und ich Leo erklären muss, dass Maine genau am anderen Ende Nordamerikas liegt, etwa auf gleicher Höhe und 6.000 Kilometer entfernt ist. Dass unsere nahezu greisen Traveller diese Strecke zurückgelegt haben, davon zeugen hunderte kleiner Insekten, die bei der Fahrt von Ost nach West und jetzt womöglich zurück ihr Leben lassen mussten und am Bug eines etwa zehn Meter langen Wohnschiffes kleben. Am nächsten Morgen zieht der Alte das Gefährt mit seinem kräftigen Toyota Pickup von der Wiese weiter über nordamerikanische Straßen.

IMG_1110

Wie überhaupt das Reisen mit den eigenen vier Wänden einen unwahrscheinlichen Boom erlebt. Der Mittelstand von unten bis ganz oben fährt mit Pickup oder gar in Busgröße durch das Land und bleibt dort, wo es gerade gefällt, holt den Weber Gasgrill raus, reißt ein Bud auf, und schon ist das Leben ein wunderbares. Egal, was außenherum passiert.

Der Deutsche passt sich da gern an. Heute sind wir eingekreist von Landsleuten. Rechts von uns machen zwei Wohnmobile fest, deren Bewohner ohne jeden Zweifel aus dem Ruhrgebiet stammen, schätze mal Essen oder Oberhausen. So genau wollen wir es gar nicht wissen. Laut und fröhlich sind sie, alles dabei, Grill, Bier, Chips. Und der Typ mit der langen grauen Matte trägt eine dicke rote Jacke mit dem Aufdruck SPD. Wenn das der Martin (Schulz) wüsste. Der braucht doch jetzt jeden Mann. Hier auf dem Platz kann er keine Stimme gewinnen. Der griesgrämige Lehrer links von uns mit seinem kommunikationslosen Anhang – „drei Kinder, eine Frau“ (Leo) – wählt ohnehin was anderes. So was wie Göring-Eckhard oder so.

Morgen soll es übrigens trocken sein, für die nächsten Tage ist sogar Sonne angesagt. Dann ohne Rauchschwaden. LET´S GO!

IMG_1037

Unsere Kanada Tour – wie Leo es erlebt

P1040109

Dieses ist die erste Geschichte von Leo in diesem Blog. Er nutzt den ersten Regentag mit tiefhängenden Wolken in den Rockys für einen kleinen Rückblick auf das bisher Erlebte und erzählt Karl seine Erlebnisse, der sie hier gemeinsam aufschreiben. Alle Fotos sind von Leo mit seiner Kamera und seinem iPhone gemacht.

Unser Ausflug mit Angus an den River war das bisher Spannendste. Auf einmal tauchte ein riesiger brauner Grizzly hinter Papa auf. Wir haben gerufen, „Komm Papa, komm!“ Und dann hat er gesagt: „Warum?“ Dann haben wir in seine Richtung gezeigt und er hat sich umgedreht. Da sah er den großen Grizzly hinter sich und ist ganz schnell zu uns gekommen. Puhh, gerade noch geklappt. Wir haben uns alle ganz eng zusammengestellt, weil Angus das so gesagt hat. Der Grizzly ist dann um uns herum durch das Gebüsch vorbeigegangen.

Dann haben wir am Flussufer gesessen und den Grizzly beobachtet, wie er durch den Fluss auf die andere Seite gegangen ist. Ich habe die Grizzlys fotografiert wie sie im Wasser Lachse gefangen haben. Dann sind wir einen ganz kleinen Weg zu einer anderen Stelle gelaufen, den auch die Bären immer gehen. Das habe ich gesehen, weil überall „Bear Shit“ auf dem Boden lag. Um die anderen zu warnen habe ich immer „Bear Shit“ gerufen, wenn ich es entdeckt habe. Ich habe einen Haufen Bear Shit auch fotografiert.

Als wir mit dem Boot zu den Walen rausgefahren sind, durfte ich vorne neben Kevin sitzen. Wir haben nach den Orkas Ausschau gehalten. Die Orkas konnte ich automatisch erkennen, weil ich die in Büchern schon mal gesehen habe. Die sprangen immer ein wenig aus dem Wasser, ihre Flossen waren immer zu sehen und die Fontänen, wenn sie Luft holten. Ich habe die Orkas viel besser fotografiert als Papa, sagt Papa. Von den riesigen Buckelwalen haben wir sogar die Schwanzflossen auf das Meer patschen gesehen, ich habe aber kein Foto geschafft. Ich habe auf unseren Bootsfahrten aber auch die Menschen fotografiert: Papa, Kevin und unsere amerikanische Fototante.

Ich habe aber schon in Vancouver ganz viele Wasserflugzeuge fotografiert, wie sie gestartet und gelandet sind. Das hatte ich vorher noch nie gesehen. Zu der Grizzly Lodge sind wir mit dem Wasserflugzeug geflogen. Ich durfte in der Luft das Steuerrad halten und merkte, wenn der Pilot steuerte, nach rechts oder nach links. Als wir wieder zurückgeflogen sind, durfte ich nach der Landung ganz allein das Flugzeug auf dem Wasser an den Steg lenken.

P1040057

Unser Camper ist in diesem Jahr einen Meter länger als im vergangenen Jahr. Wir können auf der einen Seite jetzt auch unser Wohnmobil größer ausfahren. Und es ist noch besser ausgestattet als im vergangenen Jahr in Amerika, die Küche und das Badezimmer sind auch größer. Am meisten interessieren mich auf unseren Plätzen die Wohnmobile der Kanadier und Amerikaner. Die kommen mit richten Monstern an, die so groß sind wie Busse. Aber nicht alle. Andere Pickups und sind kleiner als unseres. Ich zähle immer, wie viele Zimmer die ausfahren können. Das größte Wohnmobil konnte fünf Zimmer ausfahren.

Tschööö bis morgen. Leo!

(Und ich mache immer ganz viele Selfies, wie ihr hier sehen könnt.)

P1040111

 

Ein Haus am See, oder der Sprung ins lauwarme Wasser

IMG_0973

Das sind so die Abende, an denen man sich nach getaner Arbeit gern im Sessel niederlässt und eine gekühlte Dose irgendeines dieser gleichschmeckenden nordamerikanischen Biere aufreißt. Um sich nach dem ersten Schluck mit dem Handrücken den Schaum aus dem Bart zu wischen und genüsslich lächelnd hinaus auf den See zu blicken. Ja, auch diese Bilder habe ich auf der siebeneinhalb Stunden dauernden Fahrt von Whistler an den Sheridan Lake vor Augen. Reine Illusion, alles Werbefilmkulisse. Das (mobile) Haus am See, von dem der Schlagerbarde Peter Fox aktuell im Radio trällert, gibt es zwar. Aber der entspannte Kerl vor dem Wohnquartier im Schaukelstuhl ist eine Erfindung.

Vor gerade einmal fünf bis sieben Minuten habe ich unseren Adventurer auf Platz 34 am Seeufer bugsiert, Leo mit dem Lederfußball zum Auslaufen nach diesem Stillsitzmarathon in der Fahrerkabine auf den Playground entlassen, da kehrt der Junge auch schon zurück. Ohne Ball! Ich schaue ihn an: „Warum kommst du zurück? Was ist passiert? Wo ist der Ball?“ „Im Wasser!“ „Wie im Wasser?“ „Ist ins Wasser gefallen?“ „Wie geht das denn so schnell, mit dem ersten Schuss?“ „Ich hab dagegen geschossen, dann ist er abgeprallt!“ „Und warum hast´n nicht geholt?“ „Ist doch im Wasser!“ Diese typische rheinische Wie-Konversation zeigt, dass man nicht alles verstehen muss, was man bespricht.

Also nix wie hin. Ich lasse den Anschluss von Stromkabel und Frischwasserschlauch hinter mir, wohl wissend, dass der See still im Abendlicht ruht. Aber so ein Ball treibt eben auch raus. Und das wollen wir doch verhindern, wo wir doch diese wunderbare blaue ITALIA-Pille der Euro 2016 erst vor ein paar Tagen aufgegabelt haben. Fußbälle sind hier nicht so oft zu kriegen, noch weniger als beim kalifornischen Nachbarn. In British Columbia gehen die Jungs Angeln, Bootfahren oder Skifahren (im Winter).

Tatsächlich, da treibt das dunkelblaue Leder sanft hinaus. Ich schaue ins klare Wasser und sage zu Leo: „Los rein, ist doch ganz flach!“ Schnell die Schuhe ausgezogen, der Junge mit seinen kurzen Hosen geht in den See, aber so stürmisch, dass die Wellen den Ball richtig in Bewegung setzen. „Komm´ zurück, hat keinen Zweck, wird zu tief,“ rufe ich ihm zu, als er bis zum Hosenbund im Wasser steht, der Ball aber immer noch einen Meter entfernt ist. Längst habe ich die weißen Turnschuhe von den Füßen gezogen und stürme mit langer Jeans an den Beinen ins lauwarme Wasser. Adventure live, leider ohne Zaungäste. Etwas Beifall hätten wir schon verdient. Das ist mal eine Ankunft von neuen Gästen im Loon Bay Resort, endlich was los in diesem Idyll Schweizer Prägung und Ordentlichkeit.

IMG_0792

Kurz und gut – ich kriege den Ball zu fassen und stehe mittlerweile auch schon bis zu dem Körperteil im Wasser, wo sich in früheren Jahren mal eine Taille befand. „Wir schauen uns an, lachen über uns selbst und stolzieren mit empfindlichen Füßen über den 80 Meter langen Schotterweg zu unserem Camper. Aufkommender Ärger ist verflogen, jetzt wollen wir erst mal ein Selfie von uns beiden Helden machen, bevor die Kleidung und Wäsche gewechselt wird. Ach, das ist ja einfach, Handy ist gleich dabei, steckt in der Hosentasche. Zwar etwas nass, kurz trockengewischt und dann – knips! Funktioniert, dann rattert es aber los, 148 Fotos, Serienaufnahme sagt mir das Display. Habe ich zuvor noch nie gesehen, will ich auch nicht. Gestoppt, keine weiteren Gedanken an das Gerät verschwendet. Das kommt später.

IMG_0962

Jetzt gönnen wir uns aber erst einmal eine Erfrischung nach den Strapazen des Tages. Zur Auswahl stehen Tomatensaft, Coke Zero, Ginger Ale und pures Wasser. Nix mit Schaum abwischen aus dem gestutzten Bärtchen. Leo hat schon wieder den Ball am Fuß, bleibt aber diesmal im Revier, während der Blick zum Himmel wandert, wo ein kleiner runder roter Ball seine Umrisse durch Rauchschwaden hindurch zur Erde schickt.

IMG_1020

Was für ein Drama. Nicht für uns, wir machen schon das Beste daraus. Wer seit einem halben Jahr diese Reise plant, plant nicht mit einer Feuerhölle, sondern mit einer der schönsten Naturlandschaften dieser Erde. Ganz B.C. ist ja ein Naturpark. Eine der schönsten Städte der Welt – Vancouver – öffnet sich hin zum Pazifischen Ozean, dahinter ragen zunächst die grün bewaldeten, später dann die schroffen Felsformationen mit Schnee auf den Gipfeln und dem phantastischen Gletscher am Lake Louise auf. Nichts von alledem ist bisher zu sehen. Ganz British Columbia – inklusive Vancouver Island – ist bedeckt von einer zusammenhängenden Rauchwolke. Noch immer, vier Wochen nach Ausbruch der ersten Wildfire, lodern mehr als 200 Brandherde in dem von großer Hitze und Dürre ausgetrocknetem kanadischen Westen.

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kanada-british-columbia-steht-in-flammen-1114892.html

Heute Morgen, endlich, weckt uns die Sonne. Bisher einmalig auf dieser Reise! „Leo die Sonne scheint“, rufe ich dem Kurzen zu, der sich nach elf Stunden Schlaf noch im Bett wälzt. Ich selbst bin erst kurz zuvor aus den Federn gekrochen, nach zehn Stunden – absoluter Rekord. Die Erschöpfung hat sich vorrübergehend im Körper eingenistet. 300 Kilometer Umwege über Nebenstrecken – anders führt zur Zeit kein Weg nach Norden, um den Feuern auszuweichen. Anstatt gut dreieinhalb Stunden Fahrt brauchen wir die doppelte Zeit. Wir haben das am Morgen beim Frühstück besprochen und Leo hat gesagt: „Machen wir!“ Er ist ein grandioser Traveller, klaglos und ohne ein einziges Murren bewältigt der kleine Mann solche Marathonfahrten im Camper. Er will unterwegs sein, was sehen – und fotografiert alles aus dem fahrenden Wagen, was ihm am Wegesrand wichtig erscheint. Wir fahren also weiter, wollen noch in die großen Nationalparks in Alberta und hoffen, dass in Jasper und Banff, wo es weitaus kühler ist, auf Ruhe vor dem Feuersturm.

IMG_0995

Die Sonne hält bis zum frühen Nachmittag und wir machen eine Wanderung durch die Wälder rund um den See. Eine Alternative zum Bootfahren, das Thema ist ja mit der Lodge abgehakt. Schnitzmesser rausgeholt, Hölzer gesammelt, und raus. Wir sind gerade zurück, da verdunkelt sich der Himmel, der Wind hat gedreht. Ein Ascheregen, wie ich ihn noch nicht erlebt habe, geht am Nachmittag über unsere Anlage nieder. Doch die Kanadier bleiben ruhig und gelassen. Die Feuer seien mehr als 100 Kilometer entfernt, sagen sie.

IMG_0999

Vom Seeufer aus beobachten wir den Himmel, Leo powert sich noch ein wenig an Reck und Schaukel aus, ich muss mich beim Steinchen-Weitwerfen ins Wasser mächtig anstrengen, um nicht als Verlierer vom Platz zu gehen. Dafür gewinnt Leo heute Abend ganz groß sein erstes Mühlespiel. Und ich doktere weiter an meiner Handy-Technik rum. Mal ist es ganz aus, dann wird es heiß, dann geht es gar nicht aus, dann will es meine Apple-ID. Als ob ich so etwas wüsste. Ich gebe alle mir bekannten Kombinationen ein, drücke alle vermeintlichen Tasten. Alles falsch.

Egal, morgen geht es weiter. LET´S GO!

IMG_0793

Ein Himmel wie über Delhi

IMG_0719

Das Schöne an solchen Reisen von Ort zu Ort in der Welt ist das immer wiederkehrende Überraschende. Nichts ist so, wie man sich das mal ausgedacht hat. Jahrzehntelange Begleiter auf solchen Touren wissen, dass einem Perfektionisten wie mir das Unvorhergesehene ziemlich nerven kann, obwohl es dann meistens spannend wird.

So ist das auch heute mal wieder. Die Tage in der Lodge liegen hinter uns. Die richtige Abschlussgeschichte von dort ist noch nicht geschrieben. Es gibt sie wohl nicht mehr. Streuen wir einfach hier einige Momente ein, die es sich lohnt, in der Rückschau zu beleuchten.

Wir stehen mal wieder, ein letztes Mal, am Fähranleger. Diesmal sollen es nur insgesamt zweieinhalb Stunden Wartezeit sein. Das nehmen wir gelassen hin. Seit zwei Tagen sind Leo und ich endlich in unserem Travelmodus, wir bestimmen, wann wir was tun, nicht unbedingt, wo wir was tun. Unsere Orte, die wir ansteuern, sind vor einigen Monaten ausgewählt und gebucht worden. Sonst hätten wir wohl keine Chance, in diesem Land an den Stellen mit unserem Motorhome Quartier zu machen, die wir nun ansteuern wollen.

IMG_0712

Jetzt also geht es zurück aufs Festland. In einer Stunde verlassen wir Vancouver Island. Geplant hatten wir, schon früher am Morgen zu starten. Aber Leo schläft auch beim Handy-Wecker um sieben in der Früh so tief und fest, dass ich mich gern noch einmal dazu gelegt habe. Obwohl wir es anders besprochen haben, lassen wir die erste Fähre am Morgen sausen und warten nun auf das Mittagsschiff. Wir haben in der Autoschlange vor der Fähre gefrühstückt, Leo langt kräftig mit Leberwurst- und Frischkäsebrot zu, dazu einige Honigtomaten, zum Nachtisch ein Eis; bei mir gibt es heute Bagel mit Putenbrust, Gurken und kräftig Senf obendrauf. Seit gestern sind wir bestens in Kühl- und Gefrierschrank ausgestattet, haben alles dabei, nachdem wir im Walmart einen großen Einkaufswagen mit allen leckeren und nützlichen Basics gefüllt haben.

Der Abstecher in die Lodge und die dichte Abfolge unserer Reisetermine haben uns bisweilen ganz schön gefordert, viele schöne Dinge sind zwischenzeitlich einfach nicht gemacht worden. Für das Schreiben hier fehlte oft Zeitraum oder einfach das Internet – und bisweilen auch die Kraft. Wo nur noch Natur ist, kann man trotz dieser vernetzten Welt das Internet nur sehr begrenzt nutzen. Ob es an der fehlenden technischen Ausstattung der kanadischen Telefongesellschaften liegt oder am fehlenden Willen von Angus, seine Lodge entsprechend auszurüsten, ist nicht tiefergehend recherchiert worden. Wir kommen auch so klar. Und sei es, wenn man mal – wie heute Morgen – um 4.30 Uhr aufsteht, um die Leo-Geschichte aufzuschreiben, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.

IMG_0706

Nun sitzt der kleine Mann im Führerhaus und hört Drache Kokosnuss oder die drei Fragezeichen. Das ist seine Form, die Warte- und Reisezeiten erträglich zu gestalten. Lässig ist nun angesagt bei uns, jetzt geht es in die Rocky Mountains. Zugegeben, wir wären heute Abend gern zwei Stunden früher in Whistler gewesen. Jetzt ist es halt anders. Dafür haben wir gestern Abend in Nanaimo das erste Mal gekickt, mit einem richtigen Lederball, den wir hier aufgetrieben haben. Und haben beim Abendessen noch einmal zurückgeblickt auf unsere Erlebnisse mit Walen und Bären.

Wer nun glaubt, abenteuerliches Leben hätten wir nur in der Annäherung und Beobachtung äußerst seltener Tiere gehabt, der irrt. Die Lodge-Zeit hielt einiges an Überraschungen für uns bereit, die einzig dem gelegentlichen Stressfaktor oder meiner technischen Unzulänglichkeit zuzuschreiben sind. Oder wie erklärt man es seinem Sohn nach der Rückkehr von der ersten Exkursion, dass leider das Ladegerät für die Akkus unserer beiden kleinen Kameras im Camper geblieben ist. Nach dem ersten Tag war also Schluss mit dem richtigen Fotografieren, was Leo gerade gelernt hat und ihm riesige Freude bereitet. Die Ergebnisse sind wirklich beachtlich, tolle Aufnahmen von Menschen und Tieren, die um ihn herum sind. Jetzt heißt es leider: Bären fotografiert, aber keine Wale mehr, jedenfalls nicht mit seiner ersten Kamera. Aber da gibt es ja noch das iPhone. Geht auch nicht. Speicher voll. Warum nur habe ich ihm gerade die iCloud für bis zu 30.000 Fotos erweitert? Klar, das verstehe ich sogar nach ein paar Klicks. Die Kamera kann seine Fotos wegen fehlendem Wlan nicht in der Cloud abspeichern. Eine nächtliche Löschaktion von doppelten Motiven schafft wenigstens ein wenig Platz für die Wale auf Leos Handy.

Sharon Grace hat für solcherlei Probleme nur ein müdes Lächeln übrig. Wenn überhaupt. Wir interessieren sie nicht, der Junge stört sie. Sie schafft es, in der gesamten Zeit nicht ein persönliches Wort an uns zu richten, von ihrem tumben Begleiter Dirk ganz zu schweigen. Wahrscheinlich kinderlos. Leider haben die Guides Angus und Kevin uns für die Exkursionen mit diesen ungebildeten und unhöflichen Amerikanern aus einem Vorort von San Francisco in eine Viergruppe gesteckt. Die gesichtsfaltige Dame ist ein Augenschmaus. Sie macht sich stets fein zurecht, in brauner Dreistreifentrainingshose mit aufgenähter Bügelfalte, darüber trägt Frau ein schrilles lilafarbenes Shirt, das vor mindestens zehn Jahren aus der gleichen Plastikfaser gefertigt worden sein muss wie die Hose. Dirk passt sich an: schwarze Trainingshose von Fila und knallrotes Plastikshirt. Als hätte man ihn zum Treiber bei einer Drückjagd in der Lüneburger Heide eingeteilt.

IMG_0584

Gut, dass Bären nicht gut sehen können, aber sie riechen gut. Dirk und seine mit Riesentele auf Stativ 1000fach fotografierende Herzensdame sind von den Tieren nicht entdeckt worden. Die Grizzlys grasen am Ufer und lassen sich von uns betrachten. Sharon bedenkt jede Regung von Bären, Weißkopfseeadler oder am letzten Tag der wirklich wunderbaren Wale mit zigfachen stöhnenden Ausrufen: „Oh my god“! Sie gibt wirklich alles, um der Verwandtschaft zu Hause bestes Bildmaterial zu liefern. Dirk ist stolz auf seine Gefährtin und reicht ihr je nach Bedarf ein neues Objektiv oder einen Filter. Nach getaner Arbeit gibt es auf der Terrasse der Lodge dann die verdiente Belohnung – Wiskey Cola auf Eis. Während alle anderen sich duschen und die Kleider wechseln, erfreuen uns die beiden mit ihrer durchschwitzten Trainingskluft zum Diner.

Als Leo mir heute Abend in der Abendsonne vor unserem Camper in Whistler seine Bilder auf der Kamera zeigt, sagt er: „Gleich kommt ein Bild, das du nicht magst!“ Ich kann mir gar nicht vorstellen, was er meint. Und dann erscheint auf dem Display eine Fotoserie von, ja genau, Sharon Grace und Dirk an Bord. Gut beobachtet, kleiner Mann. Nicht nur die Objekte, sondern auch den Papa.

Jener spielte dann vor ein paar Tagen bei der Exkursion zum River ungewollt eine Hauptrolle. Wir haben uns über enge Pfade durch die grüne Hölle bis zu einer Trapperhütte durchgeschlagen, noch 200 Meter, dann wollen wir uns niederlassen. 50 Meter vor dem Ziel am Ufer des reißenden Flusses bleibe ich stehen, es lohnt sich doch diesen Wasserfall zu fotografieren, mit dem iPhone natürlich. Da drehen sich die anderen vier enteilten Begleiter um du winken, ich solle kommen. „Ja, ja, Geduld, wir sind doch da“, denke ich und schaue die anderen Menschen meiner Gruppe verstört an. Da wird Angus heftig und zeigt hinter mich. Ich fasse es nicht. 20 Meter von mir entfernt hat ein wirklich kräftiger ausgewachsener Grizzly sich auf unsere Spur gesetzt. Und er kommt flugs näher, noch heute spüre ich in Gedanken die kräftige Umarmung seiner pelzigen Pranken. Angus gibt Anweisungen, ich mache noch schnell ein Foto von dem Riesentier, dann stellen wir uns in der Gruppe zusammen, Leo in die Mitte. Mehrere Menschen zusammen greifen sie nicht an – sagt unser erfahrener Guide. Der Grizzly schlägt sich in die Büsche, nimmt einen kleinen Umweg und kommt kurz hinter unserem Lagerplatz wieder raus. Endlich kann er ungestört das Flussbett durchqueren und Lachse fischen. „Oh my god“, fehlt natürlich nicht.

IMG_0551

Angst haben wir wohl nicht gehabt, weder Leo noch ich. Sagen wir uns. „Papa, hast du Angst gehabt“, „Neeeein, mein Sohn!“ Der Tag nimmt auf jeden Fall seinen normalen Lauf. Wahrscheinlich sind wir schon so vertraut mit Flora und Fauna hier oben im Norden Kanadas, dass uns diese Begegnung auf Fellfühlung nicht aus der Bahn wirft.

IMG_0731

Was kann uns schon aus der Bahn werfen? Etwa die Feuer in den Rockys, die noch immer große Flächen Wald niederbrennen und die gesamte kanadische Westküste und Vancouver Island seit Wochen einnebeln? Der Smog verdeckt seit unserer Ankunft die Sonne, die zwar jeden Tag strahlt, nur wir sehen sie nicht. Verschwunden hinter der Dunstglocke, die dem Himmel von Delhi oder Kalkutta gleicht. Daran haben wir uns schon gewöhnt.

Wie wir allerdings mit der Straßensperrung wegen der Brände umgehen, die uns deshalb morgen zu einem gigantischen Umweg zum unserem wunderbaren nächsten Quartier am See hoch oben in den Rockys zwingt, wissen wir nicht. Ratlos gehe ich jetzt in die Nacht. Entschieden wird beim Aufstehen! Vielleicht wählen wir den Slogan, den unser Camper auf seinem Frontkennzeichen voraus trägt, zum Motto des Tages: LET´S GO!

IMG_0692

 

Leo and his best friends

IMG_0607

(Aufgeschrieben am Abend des 7. August)

„Papa, ich bin traurig!“. Erst vor wenigen Minuten sind wir mit dem Wasserflugzeug in Campbell River gelandet, Leo wieder auf dem Platz neben dem Piloten. Und jetzt dieser Satz auf dem Weg zum Parkplatz der Airline, wo unser Wohnmobil vier Tage ohne uns übernachtete. „Warum, was ist passiert?“ frage ich ob dieser starken Gefühlsäußerung des Kleinen. „Ich möchte noch so gern auf der Grizzly Bear Lodge sein.“ Wow! „Hat es dir denn da so gut gefallen?“ gebe ich den Verwunderten. „Ja, ich möchte bei Kevin und Angus sein und fischen.“

Leo hat Freundschaft geschlossen. Mit unseren beiden Führern durch die nahezu unberührte Natur von Kanadas Norden. Vier Tage lang sind wir draußen in der Welt der Bären und Wale, der Weißkopfseeadler und Seehunde gewesen. Ganz nah und still beobachtend. Jeden Tag mindestens acht Stunden auf Tour, meistens in den Motorbooten mit den Flüstermotoren. Leo hat beobachtet, fotografiert, Wale, Grizzlys, sein Lieblingstier Weißkopfseeadler. Dieser Sechsjährige hat nachmittags die langen Rückfahrten zurück zur Lodge über eine dann unruhige See mit nahezu ein Meter hohen Wellen klaglos ertragen, ja beim Flug und hartem Aufsetzen über das Wasser gar oft auf seinem Sitz ausdauernd geschlafen.

IMG_0500

Leo sitzt immer vorn neben Kevin oder Angus, den Bootslenkern. Sie zeigen ihm schnell, wenn Sie Wale sehen, erklären ihm den Unterschied zwischen Orkas und Buckelwalen, die ganz nah an unserem Boot vorbeischwimmen, schleichen sich mit dem Boot an am Ufer grasende Schwarzbären oder Grizzlys ran, zeigen ihm Bärenmamas mit ihrem ein halbes Jahr altem Nachwuchs, und gehen mit dem Jungen abends nach der Rückkehr am Anleger fischen. Dass die beiden Männer kein Wort Deutsch sprechen macht nichts, Leo lernt in diesen Tagen Englisch am Fließband.

Was für ein Glück für den kleinen Alleswissenwollenden und Entdecker, diese neuen Freunde kennenzulernen. Der eine, Angus, kam schon als Sechsjähriger hier raus, angelte seine ersten kapitalen Fische, die halb so groß waren wie er damals selbst. Jetzt, Mitte 30, ist er Eigentümer der Lodge. Vier Monate im Jahr verbringt er hier draußen, an sieben Tage die Woche; seine Familie mit zwei kleinen Töchtern im Alter von sechs und sieben Jahren lebt in Campbell River. Kevin hat die 50 schon überschritten, ist Vater einer 15-Jährigen und einer einjährigen Tochter. Verheiratet ist er mit einer Philippinin, die zurzeit mit den Kinder auf ihrer Heimatinsel urlaubt. Kevin jobt zweieinhalb Monate im Jahr in der Lodge, den Rest des Jahres verbringt er in Vancouver. „Ich habe ein grünes Herz“, sagt er. Deshalb mache er das hier. Und ein Herz für Leo, wie Angus.

Kevin bringt Leo das Angeln bei. Zunächst ohne Rute, einfach mit einer Schnur, an der die Haken befestigt sind. Die beiden stecken kleine Fischstückchen auf die Widerhaken, lassen das Ganze am Steg ins Wasser und haben innerhalb einer halben Stunde vier Fische geangelt. Leo ist begeistert. Dass Kevin dann den Fischen vorsichtig den Haken aus dem Maul entfernt und sie wieder ins Wasser schmeißt, versteht er zunächst nicht. „Die können wir doch essen!“ Aber Madeleine, die dritte Person auf der Lodge, Köchin und Hausdame, bringt zwar Vorzügliches auf den Teller, doch Fisch hat sie uns in diesen Tagen vorenthalten.

IMG_0576

Angus und Leo sind sich auf unserem Tagestrip an den River im Inneren von Vancouver Island richtig nahegekommen. Zusammen haben sie das kleine Boot klargemacht, mit dem wir übersetzten. Abenteuerlich: Auster zieht uns mit Muskelkraft an einem über das Flüsschen gespannten Seil auf die andere Seite des Ufers. Das mag Leo. Wandern über enge Pfade, die auch Grizzlys nutzen, wie Leo schnell entdeckt, er ruft immer wieder „bear shit“, wenn er den verdauten Rest des Bärenfraßes entdeckt. Mit seinen neuen Wanderschuhen steigt er über querliegende Baumstämme, kein Hindernis, das ihm im Wege steht. Dann dreht er sich schon mal um und fragt den bisweilen bewegungssteifen Vater: „Papa, schaffst du das?“ Sehr fürsorglich! Leo ist immer direkt hinter Angus, er weiß jetzt, mit welcher Waffe er uns schützen würde, falls uns ein Bär zu nahe käme – am Gürtel trägt der Führer eine Dose mit Pfefferspray. Ob es hilft? Angus erklärt: Bären haben eine ganz empfindliche Nase, damit kann man sie vertreiben. Einmal in seinem Leben habe er es bisher einsetzen müssen, der Bär war ihm bis auf vier Meter nahe gekommen. Solche Geschichten hört Leo gern.

IMG_0626

In den Stunden am Fluss sitzen die beiden allein auf einem großen Stein, unterhalten sich, warten, dass die Grizzlys auf der anderen Seite des Ufers – ca. 20 Meter entfernt – ins Wasser gehen und sich mit der Tatze mal kurz einen fetten Lachs zum Frühstück fangen. Dann ziehen mit der leckeren Mahlzeit im Maul zum Verspeisen ins Gebüsch, um nach fünf Minuten zurückzukehren. Was für Augenblicke. Und Leo ist immer ganz, ganz still, beobachtet und fotografiert. Oder er schnitzt mit seinem kleinen Trappermesser an Hölzer herum. Über uns sitzen die Weißkopfseeadler auf den Baumspitzen, halten Ausschau und kreischen gelegentlich, das gewaltige Rauschen des kleinen Wasserfalls übertönt alle anderen Geräusche der Natur.

Grizzlys kommen und gehen. Wir fühlen uns irgendwie schon vertraut mit ihnen. Angst vor diesen gewaltigen und gefährlichen Raubtieren begleitet Leo nicht. Er fühlt sich sicher aufgehoben bei Kevin und Angus. In jeder Situation. Er hat viel gelernt und gesehen. Und neue Freundschaften geschlossen. Als Kevin, wenige Minuten bevor unser Wasserflugzeug uns abholte, mit dem Boot über das Meer rauschte und verschwand, schaute Leo ihm lange nach. Da war er wohl auch schon etwas traurig.

IMG_0567