Nürnberg? Was wollt ihr denn in Nürnberg? Dieses Ziel unserer Reise ruft bei manchem Weggefährten pures Erstaunen hervor. Noch mehr als Papenburg. Dort, wissen immerhin auch Halbgebildete, schweißt die Kreuzfahrtriesenwerft Meyer ihre Stahlkolosse zusammen. Selbst Leos Mama Gina, die nur etwa 100 Kilometer von der Frankenmetropole entfernt die Oberpfalz ihre Heimat nennt, fand die Anstrengung einer Autofahrt von Berlin nach Nürnberg doch zu viel für unseren Sohn. „Schreib ihr, das ist doch pupsi“, kontert dieser Sechsjährige die sorgenvollen Bedenken seiner Mutter. Damit meint er in seiner lässigen Sprache, das sei eine Kleinigkeit. Oder sei – zu gut Deutsch – auf einer Arschbacke abzusitzen.
So ist es auch. Entspanntes Reisen über die A 9. Nach vier Stunden am Ziel. Was ist das schon gegen sieben Stunden, die wir bei nahezu 40 Grad Celsius durch das Death Valley kurvten? Die Reisezeit in Amerika hat aus uns beiden ein eingespieltes Traveller-Team gemacht. Nürnberg grüßt mit Sonnenschein. Und einer unter blauem Himmel in rotem Sandstein die Stadt überstrahlenden Burganlage. Imposant dieses 1000 Jahre alte gewaltige Gemäuer, von wo aus die deutschen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches im Mittelalter ihre Macht ausübten. Nichts wie hin.
Diese Burg und ihre Bedeutung für die deutsche Geschichte ist einer der Gründe, weshalb uns der Weg hier hinführt. Leos Interesse an allem Historischen, warum was wie entstanden ist, wird durch diese Festung mit vielen Spuren zurück bis in die Zeit der Ritter bedient. Bei unserem Streifzug durch die Säle und Gemächer mag es einer Kinderseele womöglich einfacher als uns realitätsnahen Erwachsenen gelingen, sich in eine Zeit der Staufer und Hohenzollern zurückzuversetzen, die jetzt nur noch als Ausstellungsgegenstand in Vitrinen und Dokumenten zu besichtigen ist. Auf jeden Fall werden die Gemälde der deutschen Kaiser – die nahezu fast alle Karl hießen – von Leo bis ins kleinste Detail begutachtet.
Erstaunlich, was er abspeichert. Zwei der drei Insignien eines Kaisers, nämlich Krone und Zepter, kann Leo benennen. Und zeigt darauf. Dass die symbolisierte Weltkugel in der Hand des Herrschers Reichsapfel heißt, lernt er nun dazu. Es wird nachgefragt, immer wieder. Eine Antwort muss her. Drumherum reden gilt nicht. Der kleine Mann liest nun ja auch schon selbst die Beschriftungen zu den Exponaten. Dann endlich der Rittersaal – nennen wir ihn mal so. Rüstungen, Helme, Schwerter, Lanzen, Dolche. Jetzt wird erst einmal ein Kampfesszenario entworfen – wer wohl mit welchem Schwert wen besiegen kann! Zur Überraschung seiner erwachsenen Begleitung erklärt Leo dann, dass „dieses ein Zweihandschwert ist, da kann der Ritter dann keine Lanze mehr halten“. Stimmt. Die Beschriftung an der Vitrine sagt genau das aus, was Leo nur durch Inaugenscheinnahme des Kampfwerkzeugs erkannt hat. Mir scheint, die Jahrhunderte zwischen wahren Blechrittern und den in amerikanischen Filmstudios kämpfenden StarWars Kriegern haben an Bewaffnungen und Ausrüstungen nicht viel verändert.
Ins Mittelalter zurück beamt uns die Besichtigung des Brunnenhauses. Nahezu 50 Meter tief durch die Sandstein- und Tonschichten des Burghügels gruben zwei Arbeiter über Jahre den Schacht, um an Frischwasser zu gelangen. Erstaunlich, wie viele Sekunden vergehen (es fühlt sich an wie eine Minute), bis das von oben aus einer Kanne gegossene Wasser auf den Grundwasserspiegel platscht. Ein funktionierendes Wassersystem in der Burg war vor allem bei Belagerung feindlicher Truppen von großer Bedeutung. Genauso wichtig wie der die Stadt überragende Ausguck Sinwellturm, dessen gewundenes Treppenhaus Leo nach einem langen Tag mit seinen kurzen Beinen immerhin als erster bewältigt und den wunderbaren Blick über die Dächer im Licht der sich langsam senkenden Sonne genießt. Was für eine Stadt!
Spuren, dass Nürnberg nach Dresden die in Deutschland am meisten zerstörteste Stadt im Zweiten Weltkrieg war, sind einfach nicht mehr vorhanden. Den Stadtvätern ist es gelungen, die historische Altstadt zu Füßen der Burg und rund um die Sebalduskirche nach altem Muster wiederaufzubauen. Die typischen Einfachfassaden der Wiederaufbauarchitekten aus den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts fehlen. Und Hitlers steinernen Zeugen seiner Nürnberger Mammutbegegnungen mit dem deutschen Volk in den Monumentalbauten rund um das Reichsparteitagsgelände liegen weit außerhalb des wiederhergestellten historischen Stadtkerns.
Inmitten dieser wunderbaren städtebaulichen Schönheit – direkt gegenüber vom Haus des bedeutenden Renaissance-Malers Albrecht Dürer – nehmen wir erst einmal das zu uns, was hier auch besonders gut ist. Nürnberger Würstchen. Leo sechs, Karl acht. Und dazu ein Augustiner Helles (und eine Apfelschorle). Kann ein Tag schöner ausklingen?
Nürnbergs dunkle Seiten werden nicht ausgeblendet. Deswegen sind wir ja auch hier. Dass sich Adolf Hitler einst seine vermeintliche Legitimation für die Vernichtungsfeldzüge gegen das jüdische Volk und europäische Völker in Nürnberg von herangekarrten Jubelbataillonen holte, weiß der Große. Und nun auch der Kleine. Das Dokumentationszentrum des Nationalsozialismus in der Rundumfassade der Kongresshalle zeichnet den Weg des braunen Tyrannen zeitgeschichtlich nach. Mit Exponaten, in Fotos, Filmen und Tonaufnahmen. Und zwar so, dass auch junge Menschen der heutigen Generation diese entsetzlichsten Jahre Deutschlands begreifen können. Als Leo Hitlers Schriftwerk Mein Kampf hinter Glas entdeckt, weiß er, dass dieser „das Buch im Gefängnis geschrieben hat, wie er Krieg führen will“. Und immer wieder beschäftigt ihn, warum die anderen Menschen in Deutschland das nicht verhindert haben? Warum? Wenn Kinder diese Fragen heute stellen, kann man hoffen, dass sie in ihrer Generation ähnliches Streben von Wahnsinnigen verhindern werden.
Beim Spaziergang über die Tribünen des Reichsparteitagsgeländes, beim Schritt auf den Balkon, von dem aus die NS-Größen damals die Menschen aufpeitschten, klingen noch die Tonaufnahmen des hirnrissigen Österreichers in den Ohren. Und doch sind auch Klänge da aus 1977, als auf diesem Zeppelinfeld genannten Gelände erstmals eine friedliche Massenveranstaltung stattfand. Einer von den 70.000 Fans der Rockmusik ist nun 40 Jahre später wieder hier und hat noch die Lasershow vor Augen, die von Chicago zu ihren brüllenden Saxophonklängen in den nächtlichen Nürnberger Himmel gezeichnet wurde. Bewunderung und Respekt auch noch heute für den verstorbenen Konzertveranstalter Fritz Rau, der außer der gigantischen amerikanischen Band Santana und Udo Lindenberg auf die Bühne stellte. Als The Who und AC/DC zwei Jahre später hier auftraten, war Hitlers Bühne längst gesäubert vom braunen Dreck und als Location für Großveranstaltungen etabliert. Heute wird dort immer noch im Sommer musiziert, und einmal im Jahr fahren auf diesem Asphalt Rennautos um Punkte für die Deutsche Meisterschaft.
Gut, dass es so ist. Die Vergangenheit ist nicht vergessen, aber Nürnberg lebt damit. Auch, weil gleich nebenan ein weiteres Bauwerk aus jener Zeit steht, dass regelmäßig genutzt wird und für Leo von größter Wichtigkeit ist. Das Fußballstadion, die einzige achteckige Arena in Deutschland. Auf die von dieser merkwürdigen Tribünen-Anordnung umgebenen Rasenfläche ist in den Nachkriegsjahrzehnten der damalige deutsche Rekordmeister aufgelaufen; heute kickt der heimische FCN in der Zweiten Liga und beschäftigt sich nun damit, ob das ehrwürdige Stadion nicht auf den Namen der Fußballlegende Max Morlock getauft werden sollte. Das wäre doch mal was, nach den vielen unsinnigen Namen von easyCredit- bis hin zur Grundig-Arena. Zumindest hängt die Kämpfernatur der ersten deutschen Weltmeistermannschaft von 1954 schon mal als Flagge vor dem Eingangsportal.
Leo hat sein viertes Fußballstadion auf dieser Reise gesehen und fotografiert. Das ist wichtig. Als nächstes hüpft sein großes Forscherherz. Es geht unter die Erde. Wer weiß schon, dass Nürnbergs Altstadt völlig untertunnelt ist? Die einstmals unzähligen Bierbrauer der Stadt schlugen sich große unterirdische Gänge und Höhlen zum Kühlen des Gebräus in den Felsen. Ohne Kühlung bekamen sie keine Lizenz zum Brauen. Welch ein Glück für die Kriegsjahre. Mehr als 20.000 Menschen fanden bei der Bombardierung durch die Amerikaner am 2. Januar 1945 hier Zuflucht und überlebten in einer Nacht den Abwurf von 6000 Spreng- und einer Million Brandbomben. Hier werden wir noch einmal an die Geschichte der Stadt erinnert. Genau an diesem Tag vor 72 Jahren nahmen die Amerikaner Nürnberg ein.
Dass wir mal einen Tag ohne Begegnungen mit Historischem unterwegs sein könnten, ist fast nicht möglich. Allerdings steht der Spaßfaktor beim Besuch des Museums der Deutschen Bahn eindeutig im Vordergrund. Dass hier nur ein Nachbau der ersten Lokomotive, die 1835 von Nürnberg ins benachbarte Fürth dampfte, ist verzeihlich. Ob es die „Adler“ im Original überhaupt noch gibt, ist von uns nicht recherchiert worden. Dafür stehen genügend andere ausgemusterte Schienenfahrzeuge herum, auf denen Leo sogar herumklettern darf.
Jetzt geht es aber weiter nach Frankfurt, der letzten Station. Immer im April besuchen wir unseren Freund Thomas in der Hochhausstadt am Main. Diesmal ist er uns sogar entgegengekommen – Nürnberg haben wir schon zusammen erlebt. Das Besuchsprogramm legt Leo fest, es umfasst genau drei Punkte. Sauriermuseum, Hochhaus, Fußballstadion. Das kriegen wir hin.
Gleich nach der Ankunft geht es nachmittags ins Senckenberg-Museum. „Ich übernehme jetzt mal die Führung und erkläre euch das,“ sagt der junge Mann zu seinen beiden älteren Begleitern. Und das ist auch gut so. Ob Langhals- oder Flugsaurier, Triceratops mit seinen drei Hörnern oder das Skelett vom Finnwal, indischer oder afrikanischer Elefant – Leo kennt sich mal wieder bestens aus. Und es begeistert ihn so sehr, dass er am nächsten Morgen beim Frühstück forsch die Wissensfrage stellt. „Wie viele Arten von Flugsauriern gibt es“? Auf die Antwort „zwei“ folgt gleich die Korrektur und Ermahnung: „Nur einen, Papa. Da hast du nicht aufgepasst!“
Ist ja gut Kleiner. Hat Spaß gemacht mit dir. Und jetzt bereiten wir uns vor auf die nächste Exkursion. Im Sommer nach Kanada. Dann wieder mit dem Camper. Ist doch klar.