Wenn ich zurück denke, so gut drei Jahrzehnte, dann sahen die letzten Abende einer Reise in die Welt meistens anders aus, als dieser. Dass nun nicht jeder Abschied vom Land der augenblicklichen Sehnsüchte in der total angesagten Bar der Stadt des Abflughafens mit unzähligen Gin Tonic enden muss, belegt das aktuelle Beispiel. Anstatt aus der Saigon-Bar im tropischen Nachtwind hoch OBEN im Caravelle Hotel mit feuchten und wehmütigen Augen über die Stadt zu blicken, sitze ich nun am Schreibtisch unserer Suite (kostenloses upgrade) im Diva Hotel von San Francisco, Downtown. Hinter mir hat es sich Leo auf dem Bett mit dem iPad gemütlich gemacht und schaut Robin Hood. Er genießt es, nach Wochen instabiler Internetverbindungen auf unserer Wald- und Wüstentour endlich mal wieder mit seiner digitalen Welt verbunden zu sein. Und wo bleibe ich? Habe mir nach unserem finalen Diner in der Lieblingsstadt aus dem Colibri Bistro UNTEN im Hotel eine Flasche Chardonnay mitgenommen. Ein wenig Spaß darf sein.
Nun verleiten solche letzten Stunden einer solchen Reise zum Rückblick, zur Reflektion des Erlebten und zur Überhöhung überhaupt eines jeden Erlebnisses. Welch´ berauschende Gespräche habe in solchen Situationen mit meinem jahrzehntelangen Weggefährten schon geführt. Wir waren (und sind) stets davon überzeugt, die wahren Traveler-Füchse zu sein. Keiner kann es besser! Jedes weitere Glas bestärkte uns in dieser unverrückbaren Selbstbespiegelung. Delhi, Bombay, Kalkutta, Saigon, Singapur, Manila, Bangkok, besonders New York. Und immer wieder kommen wir zum gleichen Ergebnis: Männer können am besten miteinander reisen. Auf jeden Fall stressfreier und entspannter. Das haben wir uns bis heute aus alter Bielefelder Zeit bewahrt, mindestens einmal im Jahr.
Und nun? Kommt eben einer dazu. Leo! Er ist mit dem Traveler-Gen infiziert. Nahezu unglaublich wie sich dieser fast Sechsjährige in fremden Welten bewegt. In San Francisco kennt er in Downtown so ziemlich jeden Straßenzug und zeigt den richtigen Weg. Zum Hotel findet er immer. Ein kurzes „hi“ zum Empfangschef, flugs startet er durch zum Fahrstuhl. Der Kurze will natürlich direkt schon zum bekannten Zimmer. Irgendwann sagt er heute zu mir, jetzt wolle er nach Bali. Dass dieses Ziel auf dem Plan steht – noch für dieses Jahr – weiß Leo. Aber er drückt es auch sehr konkret aus, er will absolut die Welt kennen lernen. Ich habe nichts dagegen!
Wie sind denn solche Reisen in die Welt von Mann und Männlein? Von Vater und Sohn? Anders als bisher müssen sie natürlich intensiver vorbereitet sein. Ich bin das erste Mal mit so einem Camper unterwegs. Die Erfahrungen dazu – besonders in der ersten Woche – habe ich hinreichend beschrieben. Mein (gewolltes) technisches Unverständnis trägt zu einer bisweiligen Hilflosigkeit bei. Aber Leo gibt mir in solchen Situationen grandiosen Halt. Er ist cool, so heißt das wohl inzwischen, und gelassen. Kann kommen was will: Leo zeigt nie Angst oder Verzagtheit. Dieser kleine Mann ist eine bemerkenswerte Stütze in schwierigen Situationen. Das zeigt ein wenig von unserem Teamgeist, der sich allerdings erst entwickeln muss. Zug um Zug freilich funktionieren wir blind miteinander. Jeder weiß vom anderen, wie er in einer bestimmten Situation reagiert. Ich hatte nicht ansatzweise erwartet, dass wir in den Alltagssituationen so zusammenwachsen und harmonieren könnten. Im Gegenteil: Je näher der Starttermin rückte, um so mehr Respekt hatte ich vor der Aufgabe, der ich mich da stellte.
Nun ist wirklich nicht alles stressfrei gewesen. Wieso sollte das in vier Wochen permanenten Zusammenseins anders sein, als das partiell Zuhause ist. Leo ist schon ein forderndes Bürschchen, das zuweil einfach extrem weghören kann, wenn man etwas von ihm möchte, das er nun einfach nicht einsieht zu tun. Dass es dann auch schon mal kräftig krawumst, ist doch klar! Und normal. Aber was den Jungen auszeichnet – vielleicht auch uns: wir können extrem gut damit umgehen. „Give me five“, sagt Leo dann und hält mir seine Handflächen entgegen. Sitzen wir gerade im Führerhaus auf einer unserer Transferfahrten, halten wir in solchen Situationen eben Händchen. Wie seit den ersten Wochen nach seiner Geburt. Unser Zusammenhalt. Das hat uns hier im Südwesten der USA auch extrem verbunden und über manche Tagesprobleme hinweggehoben.
Und wie geht es mir bei dieser Reise? Im Rückblick? Natürlich gut! Ein einfach einmaliges Erlebnis. Die richtige Entscheidung, es zu machen. Was ich mir nicht vorstellen konnte, wie intensiv dieses Reiseprogramm mich fordert. Außer abends nach 10 p.m., also 22 Uhr, wenn Leo dann auch wirklich schnell in unserem Wohnmobil eingeschlafen ist, gibt es in diesen vier Wochen nicht eine einzige freie Minute. Das muss man wissen, wenn man(n) so eine Tour plant. Der Junge fordert mich vom ersten Augenaufschlag mit permanentem Anspruch und vor allem mit unaufhörlichen Frage- und Antwortdiskussionen. Eine Minute ohne eine Silbe von Leo gibt es nicht. Wenn ich dann wirklich einmal nicht sofort antworte, insistiert er ziemlich eindringlich. Zwölf Stunden am Tag sind es immer, manchmal sogar 15. Dann bin ich wirklich platt.
Zwei Mal am Tag Mahlzeiten zubereiten, zwei Mal Abwaschen, Programm, Quartiere auswählen und buchen. Ganz ehrlich: ohne eine hilfsbereite Unterstützung aus der Heimat – dank Internet – funktioniert nicht die kleinste Änderung des ursprünglichen Plans. Zum einen wegen der fehlenden konstanten digitalen Verbindungen, zum anderen wegen des enormen Anspruches des Sohnes. Papa Haushalt, Papa Fahren, Papa Spielen, Papa Dies&Das. Genau so wie es sich anhört, ist es auch. Hin und wieder wirklich belastend, aber die meiste Zeit einfach richtig gut.
Diese Selbstreflektion gehört absolut zu einer solch besonderen Auszeit von Vater mit Sohn. Mir fehlt in diesen vier Wochen besonders die intellektuelle Auseinandersetzung mit Dingen und Personen, die im normalen Düsseldorfer Alltag mein Leben bestimmen. In den ersten vier Tagen habe ich noch die Süddeutsche digital geladen. Nicht eine Zeile gelesen. Zu erschöpft. Und: nicht mehr interessiert. Das Wichtigste hat Spiegel Online geliefert. Nicht einmal haben wir den Fernseher in Betrieb genommen, obwohl die Satellitenantenne auf dem Dach leicht in Betrieb zu nehmen ist und auf manchen Campgrounds sogar Kabelanschluss zur Verfügung steht. Das Einzige, das mich herausgefordert hat, ist eben dieses Geschreibsel hier. Zu sagen und aufzuschreiben, was war, was ist , was mich beschäftigt. Damit habe ich viele Defizite für mich überbrückt.
Wer eine solche Tour in dieser Form über eine solche lange Zeit realisiert, dem sollte klar sein, dass er sein persönliches Ich weit zurückstellen muss. Auf jeden Fall, wenn das Kind noch so jung ist wie Leo. Hinzu kommt, dass wir auf unseren 2400 Meilen (4500 km) kaum Deutschsprachige mit gleichaltrigen Kindern getroffen haben, eigentlich nie. Mai/Juni ist die Reisezeit der amerikanischen Rentner in dieser Region. Und wenn doch Amerikaner mit ihren Kids unterwegs waren, dann hatten die – bis auf den letzten Abend – meistens einen ziemlichen Hau! Leo macht das nichts aus: eine großartige Erfahrung ist sein offener Umgang mit Unbekanntem und Fremden. Sein Rezept: ich gehe hin und sage einfach „Hi, I am Leo!“ Was seine Offenheit gegenüber anderen Kulturen und Sprachen angeht, hat er einen großen Entwicklungssprung gemacht. Und er möchte Zuhause gern weiter Englisch sprechen, „damit ich das noch besser kann“.
Während ich hier vor mich hin schreibe, schaltet der junge Mitreisende nun das iPad aus und „möchte es sich noch etwas gemütlich machen“. Was er denn gerne möchte? „Mein Fußball-Album und meine Bücher!“ Fußballalbum war klar, Mama hat ja Zuhause bei Rewe kräftig weitere Tütchen mit Panini Bildchen eingekauft. Aber der andere Grund: Wir waren heute bei adidas, hier in San Francisco. Die deutschen Sportartikler rüsten nämlich auch den noch aktuellen und am Montagabend hoffentlich auch neuen amerikanischen Basketball-Champion Golden State Warriors aus. Während Papa sich aus der reichhaltigen Kollektion des Teams aus San Francisco den richtigen Dress aussucht, findet Leo das Deutschland-Trikot am Haken – „mit vier Sternen und Weltmeisterpokal. Das trage ich beim Sommerfest der Kita“. Ok, ich die Warriors, du die Germans!
Lustig ist es ziemlich oft bei uns gewesen. Auch heute. Ist mal wieder ein typischer Karl-Tag. Oder auch Karl & Leo. Als wir mit dem Taxi von unserer Wohnmobil-Abladestation in San Leandro in die Downtown fahren – für Leo das erste Mal über die weitgespannte Bay-Bridge – sehen wir völlig klar auf der rechten Seite der Bay die Golden Gate Bridge. Also klar: Koffer abladen und hin. Im Hotel gibt es den „Geheimtipp“, den Bus Linie 30 zu nehmen. Nach meiner Kenntnis steigt man aber erst in die 38 und dann in die 28. Wir folgen der neuen Empfehlung. Perfekte Entscheidung – mit Hindernissen. San Francisco ist ja nicht nur seit vielen Jahren die Hauptstadt der Apple-Neuigkeiten, die in Palo Alto erfunden werden. In San Francisco regiert man modern, was die gleichgeschlechtlichen Lebensweisen, Partnerschaften und deren kirchlichen Trauungen angeht. Aber auch den Umweltschutz. Busse fahren hier ohne Emissionen – per Oberleitung. Wenn sie denn mal ankommen. Unser jedenfalls nicht. Irgendwann bleibt er mit technischem Schaden stehen, wir dürfen zur nächsten Haltestelle laufen. Wählen aber leider die falsche Straßenseite und landen genau entgegengesetzt am Depot der Caltrain, des Zugsytems. Weitere Details sind unnötig, Leo und ich genießen die Stadtrundfahrt durch bekannte Bezirke – für die 20-Minuten-Strecke benötigen wir mehr als eine Stunde.
Endlich am Ziel. Golden Gate Bridge. Leo möchte sein Weltwunder fotografieren. Was wir sehen, ist der kümmerliche Fuß eines Pylons, dunkelrot schimmert die Farbe. Leo weigert sich einfach, von diesem Konstrukt ein Foto zu machen. „Da sieht man doch nichts drauf, das will ich nicht.“ Der Knabe ist konsequent. Vielleicht sollte er einfach noch einmal hier hin fahren ohne meine Begleitung. Mir ist es in den vergangenen zehn Jahren nicht gelungen, die Bridge aus der Nähe mal ganz zu sehen. Sie war immer im gloom – im Nebel.